Musiknotationen zwischen Mensuralmusik und Tastenmusik
Eine merkwürdige Mischung an Möglichkeiten, Musik zu notieren, lässt sich anhand von Beispielen aus weitgehend einer Handschrift zeigen. Pragmatisches Denken und teils experimenteller Charakter ist dabei zu beobachten. Gemeinsam ist allen diesen Notationsstilen, dass mensurale Vorstellungen zum Teil, mitunter auch gänzlich ignoriert werden, dass stattdessen die Noten in vielen Fällen ihren Wert aus sich selbst heraus anzeigen, ohne dass berücksichtigt werden muss, was vorher oder nachher steht. Dies geht oft Hand in Hand mit einer Zerlegung größerer Notenwerte in Semibreven, die als Grundwert gesehen werden können; additives Denken, einfaches Abzählen scheint dabei stets eine Rolle zu spielen.
Bei den Aufzeichnungen von Ce jour le doibt, Ave maris stella und Apollinis eclipsatur im Codex » A-Wn Cod. 5094 handelt es sich um Umschriften, sei es nun direkt in eine Tabulatur für Tasteninstrumente wie bei der Motette Apollinis eclipsatur, oder seien es Zwischenstadien beim Verfertigen von Intavolierungen, wobei der didaktische Aspekt, das Aneignen von Musik verbunden mit dem Sammeln, mit der Repertoirebildung, nicht außer Acht gelassen werden sollte. Im Kontext von Intavolierungen oder den beschriebenen Experimenten liegen sicherlich Parallelen und Voraussetzungen für das „moderne“ Verständnis von Notenschrift mit absolut zu lesenden Notenwerten. Theodor Göllner hat hier gar den „Durchbruch zu einer neuen musikalischen Zeitvorstellung, für die das Taktprinzip maßgebend wird“[39] sehen wollen. Unabhängig davon, ob man so weit gehen will oder nicht, steht Folgendes fest: Dem Organistenmilieu entstammende Musiker sind auch als Kopisten von Mensuralmusik tätig. Und immer wieder, insbesondere aber bei Wolfgang Chranekker, lässt sich beobachten, dass die von der Tastenmusik her kommenden notationstechnischen Vorstellungen auch in die Mensuralmusik einfließen. In den Eigenheiten der Aufzeichnungen für Tastenmusik und den Zwischenstadien auf dem Weg dorthin sind also nicht nur Voraussetzungen für die moderne Notenschrift zu sehen, die Auswirkungen sind bereits zeitgenössisch zu beobachten.
[39] Göllner 1967, 177.
[1] Vgl. Census-Catalogue of Manuscript Sources of Polyphonic Music 1400-1550, 5 Bände, Stuttgart 1979-1988, Band 4, 89; » F. Quellenporträts.
[2] Eine erste inhaltliche Auflistung bei Strohm 1984, 227-228.
[3] Strohm 1984, 213.
[4] Ristory 1985, 62.
[5] Die Abweichungen zusammengefasst nach Ristory 1985, 62-63. Vgl. auch Wright 2010, 292-294.
[6] Die Notation ist erläutert bei Göllner 1967, 174, und neuerdings bei Wright 2010, 290-294.
[7] Crane 1965, 237 und 243; ähnlich Göllner 1967, 173, der das Buxheimer Orgelbuch » D-Mbs Mus.ms. 3725 (München, Bayerische Staatsbibliothek, Mus.ms. 3725) ins Spiel bringt.
[8] Crane 1965, Zitat 243.
[9] Göllner 1967, 172.
[10] Ristory 1985, 62.
[11] Beide Zitate Ristory 1985, 63.
[12] Flotzinger 2006, 607, hält es für „zunehmend wahrscheinlich“, dass man in Wien und auch anderswo im 15. Jahrhundert für die Unterrichtung von Knaben Orgeln besaß.
[14] Rumbold/Wright 2006, 22, 23-26 (Tabelle), 31; in englischer Übersetzung 87, 88-91 und 95. Vgl. erstmals Rumbold 1982, 189-190.
[15] Wright 2010, 302-316, besonders 302.
[16] Vgl. als Überblick Schmid 2005.
[17] Rumbold/Wright 2009, 24.
[18] Vgl. die tabellarische Aufstellung des Inhalts bei Rumbold/Wright 2006, 117-142, wo jeweils detailliert angegeben ist, welche Schreiber am Werk waren.
[19] Schmid 1991, 52.
[20] Vgl. das Faksimile in Wright 2010, 315 und die Erläuterungen 313-314. Zu Pötzlingers Bibliothek vgl. Rumbold 1982, passim, hier 340; Rumbold/Wright 2009, 201-248
[21] Das System des Schreibers C ist ausführlich dargestellt bei Schmid 1991, 52-66. Eine Zusammenfassung gibt Wright 2010, 288-289, einen Überblick über die Notation des Codex insgesamt geben Rumbold/Wright 2006, 31-36 und in englischer Sprache 96-99.
[22] Wright 2010, 293-301.
[23] Wright 2010, 297, Notenbsp. 11-13, dazu die Erläuterungen 296 zu „variant (x)“.
[24] Vgl. Schmid 1991, 54 (untere Tabelle), 55 (Notenbeispiele).
[26] Vgl. Schmid 1991, 55, Notenbeispiel 14.
[27] Dieser Komponist hat in den letzten Jahren zunehmend Beachtung gefunden. So ist ihm Heft 49 Nr.2 (2004) der polnischen Fachzeitschrift Muzyka ausschließlich gewidmet. Den Texten sind jeweils Zusammenfassungen in englischer Sprache beigegeben.
[29] Vgl. Schmid 1991, 61, mit Notenbeispielen 26-30.
[30] Biografische Überblicke bei Wright 2007 und Flotzinger 2006a.
[32] Vgl. Wright 2007.
[33] Vgl. Schmid 1990, 80.
[34] Göllner 1967, 174-175; vgl. auch Ristory 1985, 54-61, mit diplomatischer Umschrift und Übertragung und moderne Notation; auch hier betont Ristory den didaktischen Aspekt.
[35] Vgl. Göllner 1967, 175-176 und Crane 1965, 237 (hier 238-242 eine nicht fehlerfreie Spartierung). Michael Shields liest für “run/deli” wohl irrig „ray/deleatur“: vgl. Shields 2011, 133, Anm. 11.
[36] Vgl. Strohm 1984, 212.
[37] Strohm 1984, 213.
[38] Bosse 1955, Melodie Nr. 35. Zum Rhythmus (cantus fractus) vgl. » A. Rhythmischer Choralgesang.
[39] Göllner 1967, 177.
Empfohlene Zitierweise:
Bernhold Schmid: „Organisten und Kopisten“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/organisten-und-kopisten> (2017).