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Die Orgeltabulatur aus Codex 5094

Bernhold Schmid

» A-Wn Cod. 5094 enthält auf fol.158v-158r [die Reihenfolge ergibt sich, weil das Blatt verkehrt herum eingebunden ist] von einen „Rundellus“ – so lesen wir jedenfalls am Ende des Stücks;[35] dahinter verbirgt sich indes die Ars nova-Motette Apollinis eclipsatur, wie Reinhard Strohm herausgefunden hat; [36]  allerdings sind nur der Motetus und der Contratenor notiert, der Tenor fehlt in der Wiener Aufzeichnung (vgl. auch » C Musik für Tasteninstrumente).

 

Abb. Apollinis eclipsatur

Abb. Apollinis eclipsatur

Die oft überlieferte Motette Apollinis eclipsatur (entstanden in Frankreich um 1400)  steht in » A-Wn Cod. 5094, fol. 158r–v, in einer reduzierten Fassung (nur Motetus und Contratenor) in älterer Orgeltabulatur. Am Ende der ersten Seite (fol. 158r) heißt es „finis huius rundeli etc.:“ (Ende dieses Rondellus), was eine weltliche Verwendung des Stücks andeutet. Mit Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek.

Bei der hier verwendeten Orgeltabulaturschrift ist die Unterstimme in Buchstaben notiert, die Oberstimme in Zeichen, wie wir sie aus der Mensuralnotation kennen. Wie bei der von Wolfgang Chranekker in A-Wn Cod. 5094 geschriebenen Partitur zu Dufays Chanson Ce jour le doibt (fol. 148bis v) findet sich eine Art von „Taktstrichen“, die das Stück in zeitliche Einheiten aufteilen. Dabei wechseln sich einfache „Takte“ von der Dauer einer Semibrevis und doppelte, zwei Semibreven umfassende „Takte“ ab („Doppeltakte“ stehen z. B. am Beginn des fünften Systems fol. 158v und öfter); an einer Stelle, gegen Ende des sechsten Systems auf fol. 158v, dauert ein „Takt“ gar nur eine Minima (ein gestielter Rhombus). Die Länge dieser Einheiten richtet sich ganz einfach nach der Länge des Tones der Unterstimme.

Zu erläutern sind die Notenwerte und ihr Verhältnis zueinander: Der Grundwert ist die Semibrevis, die in der Oberstimme durch einen Rhombus, in der Unterstimme durch einen Buchstaben dargestellt wird. Will man den Notenwert verdoppeln, dann werden zwei Rhomben bzw. zwei Buchstaben unmittelbar aneinandergerückt. (Vertikal übereinander notierte Buchstaben verweisen auf die höhere Oktave.) Kürzere Notenwerte, also Semiminimen, werden durch Stielung der Rhomben bzw. der Buchstaben ausgedrückt (für gestielte Buchstaben vgl. etwa das letzte System von fol. 158r). In beiden Stimmen hat die Semibrevis normalerweise den Wert dreier Minimen. Folgt aber eine Minima innerhalb eines „Takts“ auf eine Semibrevis, dann wird der Semibrevis ein Drittel ihres Wertes abgezogen. Dieses Verfahren der Verkürzung längerer Notenwerte kommt aus der Mensuralnotation (Imperfektion) und trifft im Beispiel auf Noten wie Buchstaben gleichermaßen zu (vgl. etwa den siebten Takt der letzten Zeile von fol. 158r). Im Fall der Verdoppelung der Minima verhalten sich beide Stimmen aber unterschiedlich. Stehen in der Oberstimme zwei Minimen innerhalb eines „Taktes“, dann verdoppelt die zweite ihren Wert (Alteration), wie hier im allerersten Taktabschnitt: » Abb. Orgeltabulatur. Alteration der Minima. Auch dieses Verfahren der Verdopplung kürzerer Notenwerte kommt aus der Mensuralnotation. Mensurales Denken wird aber nicht einfach übernommen. Die Verdoppelung der zweiten Minima erschließt sich nämlich automatisch, wenn sie vor dem „Taktstrich“ steht; damit haben wir ein auch bei Wolfgang Chranekker im Emmeramer Mensuralcodex zu beobachtendes Verfahren vor uns. Freilich setzt Chranekker keine Striche, sondern Punkte.

Anders verhält sich die Unterstimme beim Verdoppeln von Werten: Der Rhythmus kurz-lang wird in der Unterstimme (im letzten Taktabschnitt von » Abb. Orgeltabulatur: Alteration der Minima) mit einem gestielten und einem nicht gestielten Buchstaben notiert, die Zeichen geben ihren Wert also aus sich heraus an, der Wert der zweiten Note muss nicht aus ihrer Stellung vor dem „Taktstrich“ erschlossen werden.

 

 

Abb. Orgeltabulatur. Alteration der Minima

Orgeltabulatur. Alteration der Minima

Die jeweils zweite Note hat die doppelte Länge.
Erster Taktabschnitt: Verdopplung des zweiten Wertes mit Notenzeichen
Letzter Taktabschnitt: Verdopplung des zweiten Wertes mit Buchstaben.

Aus Apollinis eclipsatur in » A-Wn Cod. 5094, fol. 158r (Ausschnitt). Mit Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek.

 

Innerhalb ein und desselben Stücks kommen also beim Verdoppeln von Notenwerten zweierlei Systeme zur Anwendung: Sowie in Noten geschrieben wird, lehnt sich das Notationssystem an die Alterierung der Mensuralnotation an, bei der Notation in Buchstaben hingegen wird in absolut lesbaren, unserem modernen Verständnis entsprechenden Werten gedacht. Und bemerkenswert ist schließlich auch noch die weitere Inkonsequenz, dass beim Verkürzen von Werten in beiden Stimmen (also bei Noten und Buchstaben) mensurales Denken durchschlägt, dass hingegen beim Verdoppeln die Buchstabenschrift sich vom mensuralen Denken gänzlich frei macht, während bei der Verwendung von Notenzeichen das Mensuralsystem durchschlägt.

[35] Vgl. Göllner 1967, 175-176 und Crane 1965, 237 (hier 238-242 eine nicht fehlerfreie Spartierung). Michael Shields liest für “run/deli” wohl irrig „ray/deleatur“: vgl. Shields 2011, 133, Anm. 11.

[36] Vgl. Strohm 1984, 212.