Weitere Notationssysteme im Codex 5094
Die Aufzeichnungen von Ce jour le doibt, Ave maris stella und Apollinis eclipsatur in » A-Wn Cod. 5094 sind Notationsweisen, die entweder direkt für die Orgel oder ein anderes Tasteninstrument gedacht waren – in Frage kommt bei Buchstabennotation außerdem die Laute[37] – , oder aber als Zwischenschritte auf dem Weg von mensuralen Aufzeichnungen hin zur Bearbeitung für ein Tasteninstrument verstanden werden können, wobei didaktischer Zweck natürlich nicht auszuschließen ist. Mehrfach zeigt sich in dieser Handschrift, dass die Regeln der Mensuralnotation entweder ganz umgangen oder zumindest nur teilweise angewandt wurden. Zu beobachten ist außerdem, dass derartige mit Tastenmusik in Verbindung stehenden Tendenzen auch auf das Kopieren von eigentlich mensural zu notierender Vokalmusik Einfluss nehmen, was insbesondere auf die Stücke zutrifft, die der Organist Wolfgang Chranekker in den Emmeramer Mensuralcodex eintrug. „Absolut lesbare“, d.h. nicht aus dem Verhältnis mehrerer Zeichen zu erschließende Notensymbole enthält der Codex 5094 aber auch in Aufzeichnungen von Musik, die nicht mit Tastenmusik in Verbindung gebracht werden kann, die jedoch wohl ebenfalls von einem Personenkreis gepflegt wurde, der im Bereich der Tastenmusik tätig war. So enthält fol. 151v eine von Haus aus rhythmisierte einstimmige Gloria-Melodie:[38] vgl. » Abb. Gloria in excelsis.
Der hier fast wie ein kleines Strichlein aussehende Rhombus ist als Grundwert anzusehen. Zwei Rhomben nebeneinander bedeuten eine Verdopplung des Wertes, Stielung eine Halbierung, die gelegentlichen Zweierligaturen haben den Wert zweier Rhomben. Kommen in Stücken dieser Art punktierte Notenwerte vor (nicht im Beispiel), dann wird unmittelbar neben einen Rhombus ein gestielter Rhombus gesetzt. Aufgrund seiner Einfachheit erschließt sich das Notationssystem von selbst. Im Prinzip genauso notiert ist auf fol. 157r ein Sanctus mit Benedictus und ein Agnus Dei, das melodisch mit dem Sanctus identisch ist.
Ähnlichen Regeln folgt die Notierung zweier Credos auf fol. 162r/v und 163v. Die Stücke sind in einer Art Mensuralnotation aufgezeichnet, wobei hier auch quadratische Noten (Breven und Longen) vorkommen und der Rhombus (semibrevis) regelgetreu in zwei (fol. 162v) bzw. drei (fol. 163v) gestielte Rhomben (Minimen) zu teilen ist. Zur Verdeutlichung sind jedoch über die längeren Notenwerte Punkte gesetzt, die die Anzahl der Grundwerte in diesen langen Noten festlegen. » Abb. Patrem omnipotentem.
Hier soll jeder Punkt den Grundwert einer Semibrevis (Rhombus) anzeigen. Die Semibreven sind in diesem Stück in je zwei gestielte Minimen aufteilbar. Die Unterscheidung zwischen gestielten und ungestielten rechteckigen Noten (Longen bzw. Breven) ist vernächlässigt, dafür zeigt die Anzahl der Punkte genau, wie lang die Note auszuhalten ist. Die erste gestielte rhombische Note (Minima) zu Beginn des Wortes „factorem“ und die vorletzte Note („li“) sind Auftakte, deren Wert einfach von der vorangehenden Note abgezogen wird. (Vgl. » Notenbsp. Patrem omnipotentem)
Durch diese Pragmatik der Schrift und insbesondere ihre Tendenz zur absoluten Lesbarkeit ist Musikern, die den Regeln der Mensuralnotation nicht bis in alle Bereiche folgen konnten oder wollten – vermutlich Praktikern und Organisten – eine „absolut lesbare“ Handhabe zur Aufführung geboten.
[37] Strohm 1984, 213.
[38] Bosse 1955, Melodie Nr. 35. Zum Rhythmus (cantus fractus) vgl. » A. Rhythmischer Choralgesang.
[1] Vgl. Census-Catalogue of Manuscript Sources of Polyphonic Music 1400-1550, 5 Bände, Stuttgart 1979-1988, Band 4, 89; » F. Quellenporträts.
[2] Eine erste inhaltliche Auflistung bei Strohm 1984, 227-228.
[3] Strohm 1984, 213.
[4] Ristory 1985, 62.
[5] Die Abweichungen zusammengefasst nach Ristory 1985, 62-63. Vgl. auch Wright 2010, 292-294.
[6] Die Notation ist erläutert bei Göllner 1967, 174, und neuerdings bei Wright 2010, 290-294.
[7] Crane 1965, 237 und 243; ähnlich Göllner 1967, 173, der das Buxheimer Orgelbuch » D-Mbs Mus.ms. 3725 (München, Bayerische Staatsbibliothek, Mus.ms. 3725) ins Spiel bringt.
[8] Crane 1965, Zitat 243.
[9] Göllner 1967, 172.
[10] Ristory 1985, 62.
[11] Beide Zitate Ristory 1985, 63.
[12] Flotzinger 2006, 607, hält es für „zunehmend wahrscheinlich“, dass man in Wien und auch anderswo im 15. Jahrhundert für die Unterrichtung von Knaben Orgeln besaß.
[14] Rumbold/Wright 2006, 22, 23-26 (Tabelle), 31; in englischer Übersetzung 87, 88-91 und 95. Vgl. erstmals Rumbold 1982, 189-190.
[15] Wright 2010, 302-316, besonders 302.
[16] Vgl. als Überblick Schmid 2005.
[17] Rumbold/Wright 2009, 24.
[18] Vgl. die tabellarische Aufstellung des Inhalts bei Rumbold/Wright 2006, 117-142, wo jeweils detailliert angegeben ist, welche Schreiber am Werk waren.
[19] Schmid 1991, 52.
[20] Vgl. das Faksimile in Wright 2010, 315 und die Erläuterungen 313-314. Zu Pötzlingers Bibliothek vgl. Rumbold 1982, passim, hier 340; Rumbold/Wright 2009, 201-248
[21] Das System des Schreibers C ist ausführlich dargestellt bei Schmid 1991, 52-66. Eine Zusammenfassung gibt Wright 2010, 288-289, einen Überblick über die Notation des Codex insgesamt geben Rumbold/Wright 2006, 31-36 und in englischer Sprache 96-99.
[22] Wright 2010, 293-301.
[23] Wright 2010, 297, Notenbsp. 11-13, dazu die Erläuterungen 296 zu „variant (x)“.
[24] Vgl. Schmid 1991, 54 (untere Tabelle), 55 (Notenbeispiele).
[26] Vgl. Schmid 1991, 55, Notenbeispiel 14.
[27] Dieser Komponist hat in den letzten Jahren zunehmend Beachtung gefunden. So ist ihm Heft 49 Nr.2 (2004) der polnischen Fachzeitschrift Muzyka ausschließlich gewidmet. Den Texten sind jeweils Zusammenfassungen in englischer Sprache beigegeben.
[29] Vgl. Schmid 1991, 61, mit Notenbeispielen 26-30.
[30] Biografische Überblicke bei Wright 2007 und Flotzinger 2006a.
[32] Vgl. Wright 2007.
[33] Vgl. Schmid 1990, 80.
[34] Göllner 1967, 174-175; vgl. auch Ristory 1985, 54-61, mit diplomatischer Umschrift und Übertragung und moderne Notation; auch hier betont Ristory den didaktischen Aspekt.
[35] Vgl. Göllner 1967, 175-176 und Crane 1965, 237 (hier 238-242 eine nicht fehlerfreie Spartierung). Michael Shields liest für “run/deli” wohl irrig „ray/deleatur“: vgl. Shields 2011, 133, Anm. 11.
[36] Vgl. Strohm 1984, 212.
[37] Strohm 1984, 213.
[38] Bosse 1955, Melodie Nr. 35. Zum Rhythmus (cantus fractus) vgl. » A. Rhythmischer Choralgesang.
[39] Göllner 1967, 177.
Empfohlene Zitierweise:
Bernhold Schmid: „Organisten und Kopisten“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/organisten-und-kopisten> (2017).