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Zweckbestimmung und Schreiber von Ce jour le doibt in A-Wn, Cod. 5094

Bernhold Schmid

Die Frage, warum die Chanson Ce jour le doibt in A-Wn Cod. 5094 (fol. 148bis v) als Partitur notiert ist, wurde ausgiebig diskutiert: Frederick Crane spricht von einer Partitur für Tasteninstrumente, verweist auf ähnliche Partituren aus England 100 Jahre später und für die deutschsprachige Region auf die Ileborgh-Tabulatur aus der Mitte des 15. Jahrhunderts (heute in Privatbesitz),[7] schreibt aber: „There is no reason to believe that the present piece is intended for keyboard, except that it would be easier to read than usual vocal notation, with the parts separate and not aligned.“[8] Theodor Göllner sieht in der Partitur unter Berufung auf den spanischen Theoretiker Juan Bermudo (1555) eine „vorübergehende Phase des Umwandlungsprozesses“ einer Vokalkomposition zu einem Stück für Tasteninstrumente.[9] Und Heinz Ristory, der die vor ihm geäußerten Thesen zusammenfassend referiert hat,[10] sieht das „ständige Aufschlüsseln größerer Werte […] keineswegs allein in einer geplanten Instrumentalverwendung“ und bringt als weiteren Aspekt den Unterricht, die Musiklehre ins Spiel, da „die generelle Tendenz zu rhythmischer Vereinfachung […] didaktische Züge“ habe.[11] Die unterschiedlichen Thesen schließen sich durchaus nicht gegenseitig aus; es liegt ja auf der Hand, dass die Zusammenführung einzelner Stimmen in ein Partitursystem ebenso wie die Umsetzung eines Ensemblestücks auf ein Tasteninstrument dem Lernen wie dem Lehren gleichermaßen dienten.[12]

Lange hat man gerätselt, wer sich hinter dem Schreiber der Wiener Partitur von Ce jour le doibt verbirgt. Ein erster Schritt zu seiner Identifizierung gelang Tom R. Ward, als er feststellte, dass der Wiener Schreiber zudem einer der Hauptkopisten des sogenannten Mensuralcodex St. Emmeram der Bayerischen Staatsbibliothek München (» D-Mbs Clm 14274) ist.[13] (» Abb. Que corda nostra). Unser Schreiber hat also nicht nur speziell eine Partitur von Vokalmusik erstellt, sondern er hat auch Vokalmusik in der sonst üblichen Weise  in Einzelstimmen notiert. Es wird sich zeigen, dass seine in der Partitur zu beobachtenden notationstechnischen Vorstellungen auch sein Notieren von Vokalmusik beeinflusst haben.

Abb. Que corda nostra

Abb. Que corda nostra

Sequenzvertonung von Hermann Edlerawer (aus Sancti spiritus adsit nobis gratia). Schrift Wolfgang Chranekkers im Mensuralcodex St. Emmeram  (» D-Mbs Clm 14274), fol. 135v.

Bayerische Staatsbibliothek urn:nbn:de:bvb:12-bsb00001643-7, image no. 274.

 

Ian Rumbold bezeichnete den anonymen Schreiber im Emmeramer Codex als „Scribe D“,[14] Peter Wright konnte ihn ausgehend von der Vermutung, dass wir es mit einem Organisten zu tun haben, über ausgedehnte Schriftvergleiche sowie über Wasserzeichenanalysen schließlich als Wolfgang Chranekker identifizieren.[15] Chranekker hat sich in der heute in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien liegenden Handschrift » A-Wn Cod. 3891 am 17. Januar 1441 als Kopist der Sermones von Thomas Ebendorfer namentlich eingetragen; er nennt sich „tunc temporis organista in Sancto Wolfgango“, er war also tatsächlich Organist und zu dieser Zeit in St. Wolfgang am gleichnamigen See tätig. Leider wissen wir nicht mehr über ihn, aber allein schon die Tatsache, dass wir mit dem Schreiber der Wiener Partitur einen Organisten vor uns haben, bestätigt zumindest die Nähe dieser Aufzeichnung zur Orgelmusik.

[7] Crane 1965, 237 und 243; ähnlich Göllner 1967, 173, der das Buxheimer Orgelbuch » D-Mbs Mus.ms. 3725 (München, Bayerische Staatsbibliothek, Mus.ms. 3725) ins Spiel bringt.

[8] Crane 1965, Zitat 243.

[9] Göllner 1967, 172.

[10] Ristory 1985, 62.

[11] Beide Zitate Ristory 1985, 63.

[12] Flotzinger 2006, 607, hält es für „zunehmend wahrscheinlich“, dass man in Wien und auch anderswo im 15. Jahrhundert für die Unterrichtung von Knaben Orgeln besaß.

[13] Ward 1981, 342; vgl. auch die Faksimiles auf 340 und 341.

[14] Rumbold/Wright 2006, 22, 23-26 (Tabelle), 31; in englischer Übersetzung 87, 88-91 und 95. Vgl. erstmals Rumbold 1982, 189-190.

[15] Wright 2010, 302-316, besonders 302.