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Musiknotationen zwischen Mensuralmusik und Tastenmusik

Bernhold Schmid

Eine merkwürdige Mischung an Möglichkeiten, Musik zu notieren,  lässt sich anhand von Beispielen aus weitgehend einer Handschrift zeigen. Pragmatisches Denken und teils experimenteller Charakter ist dabei zu beobachten. Gemeinsam ist allen diesen Notationsstilen, dass mensurale Vorstellungen zum Teil, mitunter auch gänzlich ignoriert werden, dass stattdessen die Noten in vielen Fällen ihren Wert aus sich selbst heraus anzeigen, ohne dass berücksichtigt werden muss, was vorher oder nachher steht. Dies geht oft Hand in Hand mit einer Zerlegung größerer Notenwerte in Semibreven, die als Grundwert gesehen werden können; additives Denken, einfaches Abzählen scheint dabei stets eine Rolle zu spielen.

Bei den Aufzeichnungen von Ce jour le doibt, Ave maris stella und Apollinis eclipsatur im Codex » A-Wn Cod. 5094 handelt es sich um Umschriften, sei es nun direkt in eine Tabulatur für Tasteninstrumente wie bei der Motette Apollinis eclipsatur, oder seien es Zwischenstadien beim Verfertigen von Intavolierungen, wobei der didaktische Aspekt, das Aneignen von Musik verbunden mit dem Sammeln, mit der Repertoirebildung, nicht außer Acht gelassen werden sollte. Im Kontext von Intavolierungen oder den beschriebenen Experimenten liegen sicherlich Parallelen und Voraussetzungen für das „moderne“ Verständnis von Notenschrift mit absolut zu lesenden Notenwerten. Theodor Göllner hat hier gar den „Durchbruch zu einer neuen musikalischen Zeitvorstellung, für die das Taktprinzip maßgebend wird“[39] sehen wollen. Unabhängig davon, ob man so weit gehen will oder nicht, steht Folgendes fest: Dem Organistenmilieu entstammende Musiker sind auch als Kopisten von Mensuralmusik tätig. Und immer wieder, insbesondere aber bei Wolfgang Chranekker, lässt sich beobachten, dass die von der Tastenmusik her kommenden notationstechnischen Vorstellungen auch in die Mensuralmusik einfließen. In den Eigenheiten der Aufzeichnungen für Tastenmusik und den Zwischenstadien auf dem Weg dorthin sind also nicht nur Voraussetzungen für die moderne Notenschrift zu sehen, die Auswirkungen sind bereits zeitgenössisch zu beobachten.