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Wolfgang Chranekker als Kopist von Mensuralmusik im Codex D-Mbs Clm 14274

Bernhold Schmid

Chranekker war an der Handschrift » D-Mbs Clm 14274, dem Mensuralcodex St. Emmeram der Bayerischen Staatsbibliothek, als Schreiber beteiligt.[16] Diese Quelle ist eng mit Wien verbunden, da deren Besitzer und Hauptschreiber Hermann Pötzlinger (» G. Hermann Pötzlinger) in Wien studiert hat; im Sommer 1436 immatrikulierte er sich an der Wiener Universität, am 14. April 1439 erhielt er den akademischen Grad eines Baccalaureus.[17] Große Teile dieser Handschrift sind mit Sicherheit um 1440 in Wien entstanden (» E. Wiener Kirchenmusik). Schließlich ist der Codex die Hauptquelle für die Kompositionen Hermann Edlerawers (» G. Hermann Edlerawer), der spätestens seit 1435 in Wien nachweisbar ist und ca. 1439 bis 1449 (oder 1444) als Kantor in St. Stephan tätig war. Den jüngsten Teil dieser Handschrift hat Chranekker geschrieben, nämlich die zweite Hälfte des Faszikels 11, die Faszikel 12 und 13 und schließlich den wohl zuletzt entstandenen, an den Anfang gebundenen Faszikel 1. Aber auch sonst ist im Codex Chranekkers Hand zu beobachten: Mehrmals hat er ursprünglich fehlende Contratenores nachgetragen und diverse fehlerhaft notierte Stellen korrigiert.[18] Nicht nur die Wiener Partitur der Chanson Ce jour le doibt und die Tatsache, dass Chranekker Organist war, sondern auch seine ergänzenden und verbessernden Einträge im Emmeramer Codex zeigen somit, dass wir einen professionellen Musiker vor uns haben, während der Hauptschreiber und Besitzer Pötzlinger vor allem Geistlicher und Lehrer war.[19] Zusammenarbeit, die auf persönliche Bekanntschaft der Schreiber der Emmeramer Quelle schließen lässt, ist auch in anderen Handschriften nachweisbar: » D-Mbs Clm 14955 (ca. 1440) aus Pötzlingers etwa 100 Bände umfassender Bibliothek, der zweite Teil eines Alten Testaments, vereinigt auf fol. 63r die Handschriften von Pötzlinger, Chranekker und diejenige des Schreibers C, eines weiteren Hauptkopisten des Emmeramer Mensuralcodex, der bis heute nicht identifiziert wurde.[20] Die Zusammenarbeit Pötzlingers mit Chranekker und anderen Bekannten beschränkt sich also keineswegs auf die Musik.Chranekkers Vorstellungen von der Notation von Mensuralmusik sind aus seiner Wiener Partitur der Chanson Ce jour le doibt in A-Wn Cod. 5094 (fol. 148bis v)  ersichtlich: Dort denkt er konsequent in absolut lesbaren Notenzeichen; der Wert eines Notenzeichens ist aus sich heraus erkennbar, während bei der zeitgenössischen Mensuralnotation das Umfeld eines jeden Zeichens zu berücksichtigen ist. Seine Einträge im Emmeramer Codex gehen in dieselbe Richtung. Hier hat die Brevis auch im perfekten Tempus (einem dreizeitigen Metrum) in aller Regel den Wert zweier Semibreven; soll sie drei Semibreven umfassen, dann wird sie punktiert, was im mensuralen Denken ja nicht vorgesehen ist.[21] Peter Wright hat darüber hinaus gezeigt, dass das bei der Partitur zu beobachtende Aufteilen längerer Notenwerte zu kürzeren auch im Mensuralcodex zu beobachten ist.[22] Dies geschieht nicht nur dann, wenn es eventuell damit zu tun haben könnte, dass ein anderer Text als der originale mit abweichender Silbenzahl das Aufspalten von Werten erzwingt, sondern auch dann, wenn der originale, auch aus anderen Quellen bekannte Text verwendet wird.[23] Schließlich – und das ist wesentlich – gibt es den Fall, dass längere, über die Mensurgrenzen hinausgehende Notenwerte so aufgeteilt werden, dass die Werte jeweils innerhalb der Mensur Platz finden: vgl. » Notenbsp. Beata mater (Dunstaple) in D-Mbs Clm 14274.

 

 

Exakt diese Situation ist ja für die Partitur von Ce jour le doibt prägend, wo kein einziger Notenwert über die von den Taktstrichen vorgegebenen Grenzen hinausgeht. Analog dazu ist in den von Chranekker geschriebenen Teilen des Emmeramer Codex der sogenannte Divisionspunkt häufig zu beobachten,[24] der „weitgehend die gleichen Eigenschaften wie ein Taktstrich“[25] besitzt. Chranekker setzt ihn meist dann, wenn er eine zweizeitige („alterierte“, das heißt hinsichtlich ihres Wertes verdoppelte) Semibrevis notiert. In der Partitur macht er das kein einziges Mal, da er den Wert zweier Semibreven durchgängig als zweizeitige Brevis schreibt. Im Mensuralcodex jedoch ist er in dieser Hinsicht nicht wirklich konsequent. Wo aber die Semibrevis zweizeitig zu lesen ist, setzt er dahinter einen Punkt; damit ist klargestellt, dass die Note bis zum Ende der Mensur auszuhalten ist.

Es zeigt sich also, dass Chranekker auch beim Notieren von Vokalmusik sein aus der Partitur bekanntes System aufgreift, absolut aus sich heraus verständliche Zeichen zu setzen – wobei er freilich  nicht durchgängig konsequent vorgeht. Der Grund dafür mag darin liegen, dass er beim Kopieren von Vokalmusik dann doch in gewisser Weise von seinen Vorlagen beeinflusst bleibt. „Sein“ Notationssystem wendet er offenbar erst dann vollständig an, wenn er ein Stück in das andersgeartete Medium der Partitur umschreibt. Wie wenig konsequent er beim Kopieren von Vokalmusik verfährt, zeigt eine Stelle aus einem anonymen Salve regina (fol. 147v-149r); an ein und derselben Stelle setzt er in den beiden unteren Stimmen jeweils zweizeitige Semibreven mit Divisionspunkt, in der Oberstimme hingegen verwendet er eine zweizeitige Brevis.[26]

[16] Vgl. als Überblick Schmid 2005.

[17] Rumbold/Wright 2009, 24.

[18] Vgl. die tabellarische Aufstellung des Inhalts bei Rumbold/Wright 2006, 117-142, wo jeweils detailliert angegeben ist, welche Schreiber am Werk waren.

[19] Schmid 1991, 52.

[20] Vgl. das Faksimile in Wright 2010, 315 und die Erläuterungen 313-314. Zu Pötzlingers Bibliothek vgl. Rumbold 1982, passim, hier 340; Rumbold/Wright 2009, 201-248

[21] Das System des Schreibers C ist ausführlich dargestellt bei Schmid 1991, 52-66. Eine Zusammenfassung gibt Wright 2010, 288-289, einen Überblick über die Notation des Codex insgesamt geben Rumbold/Wright 2006, 31-36 und in englischer Sprache 96-99.

[22] Wright 2010, 293-301.

[23] Wright 2010, 297, Notenbsp. 11-13, dazu die Erläuterungen 296 zu „variant (x)“.

[24] Vgl. Schmid 1991, 54 (untere Tabelle), 55 (Notenbeispiele).

[25] Zitat aus Apel 1962, 123.

[26] Vgl. Schmid 1991, 55, Notenbeispiel 14.