Der Umgang mit Notation: regionale Tendenzen
Wolfgang Chranekker ist nicht der einzige Kopist, der vom kodifizierten System der Mensuralnotation abweicht. Andere Schreiber, etwa der Besitzer und Hauptschreiber des Emmeramer Codex (» D-Mbs Clm 14274) Hermann Pötzlinger, zeigen gelegentlich ähnliche Tendenzen. Pötzlinger orientierte sich aber vermutlich an seinen Vorlagen und übernahm den Notationsstil, den er jeweils vorfand. Denn erstens wendete er verschiedene Notationssysteme an (die Notation wechselt mit der Herkunft und damit mit dem Stil der Stücke), und zweitens war er wohl kein Musiker, kein Fachmann im engeren Sinn. Daraus resultiert, dass er seine Vorlagen wohl mehr oder weniger unkritisch abschrieb. Aber auch bei anderen Schreibern, von denen man wie bei Chranekker weiß, dass sie Musiker waren, findet sich Ähnliches: So enthalten die Codices Trient 90 (» I-TRbc 90, fol. 65v-66r) und Trient 93 (» I-TRcap 93, fol. 94v-95r und fol. 358r-359r) ein Kyrie fons bonitatis von Magister Petrus Wilhelmi de Grudencz,[27] das Wolfgang Chranekker auch in den Emmeramer Codex eingetragen hat (fol. 11v-12r): Es weist Abweichungen von der „regulären“ Mensuralnotation Westeuropas auf, die – wie schon Tom R. Ward bemerkt hat – teilweise auf Einflüsse aus Böhmen zurückgeführt werden können.[28] Auch in den Trienter Überlieferungen dieses Stücks sind diese Eigenarten zu beobachten.[29] Vom Schreiber des Codex Trient 90, dem mit einiger Sicherheit aus München stammenden Johannes Wiser (ca. 1430 – nach 1503?),[30] ist anzunehmen, dass er Musiker war; jedenfalls legt seine Leistung als Kopist nahe, dass er musikalische Bildung besaß.[31] Auch war er vermutlich Organist, wenn er mit jenem „Johannes Organista de Monaco“ identisch ist, der sich im November 1454 an der Universität Wien immatrikuliert hat.[32] Mit Sicherheit kannte er Johannes Lupi (ca. 1410 – vor 04. 04. 1467), der vor ihm am Projekt der riesigen Trienter Notensammlung gearbeitet und die Codices » 87 (Faszikel 1-18) und » 92 (Faszikel 13-22) geschrieben hat. Von Lupi wissen wir eindeutig, dass er Organist war; er ist 1443 als Organist in Trient am Dom belegt. Auch er hat übrigens in Wien studiert (ab 1428) und könnte deshalb Hermann Edlerawer und vielleicht sogar Hermann Pötzlinger noch gekannt haben(» G. Johannes Lupi).
Zu erwähnen bleibt, dass auch die Musiktheorie auf Tendenzen im Notationssystem reagierte; jedenfalls ist eine Passage in einem Traktat aus der Mitte des 15. Jahrhunderts aus einer Handschrift aus dem Kloster St. Blasius in Regensburg (» D-Mbs Clm 26812) sinnvoll nur so zu deuten. Diese Passage bezieht sich auf die Alterierung (die Verdoppelung des Wertes) der Semibrevis, die insbesondere Wolfgang Chranekker aber gerne vermeidet – er schreibt stattdessen lieber eigentlich regelwidrig zweizeitige Breven oder setzt einen Punkt hinter eine alterierte Semibrevis, um so den verdoppelten Wert anzuzeigen. Im Traktat heißt es: „Eciam, si secunda [semibrevis] non alteratur […], tunc adhuc non est brevis, sed semibrevis.“ – „Wenn die zweite [Semibrevis] nicht verdoppelt wird […], dann ist sie keine Brevis, sondern eine Semibrevis.“ Der Autor bezeichnet die alterierte Semibrevis also entgegen den Regeln der Mensuralnotation als Brevis.[33]
[27] Dieser Komponist hat in den letzten Jahren zunehmend Beachtung gefunden. So ist ihm Heft 49 Nr.2 (2004) der polnischen Fachzeitschrift Muzyka ausschließlich gewidmet. Den Texten sind jeweils Zusammenfassungen in englischer Sprache beigegeben.
[29] Vgl. Schmid 1991, 61, mit Notenbeispielen 26-30.
[30] Biografische Überblicke bei Wright 2007 und Flotzinger 2006a.
[31] Vgl Bent 1986, passim, besonders 95: „He was musically aware of what he was doing.”
[32] Vgl. Wright 2007.
[33] Vgl. Schmid 1990, 80.
[1] Vgl. Census-Catalogue of Manuscript Sources of Polyphonic Music 1400-1550, 5 Bände, Stuttgart 1979-1988, Band 4, 89; » F. Quellenporträts.
[2] Eine erste inhaltliche Auflistung bei Strohm 1984, 227-228.
[3] Strohm 1984, 213.
[4] Ristory 1985, 62.
[5] Die Abweichungen zusammengefasst nach Ristory 1985, 62-63. Vgl. auch Wright 2010, 292-294.
[6] Die Notation ist erläutert bei Göllner 1967, 174, und neuerdings bei Wright 2010, 290-294.
[7] Crane 1965, 237 und 243; ähnlich Göllner 1967, 173, der das Buxheimer Orgelbuch » D-Mbs Mus.ms. 3725 (München, Bayerische Staatsbibliothek, Mus.ms. 3725) ins Spiel bringt.
[8] Crane 1965, Zitat 243.
[9] Göllner 1967, 172.
[10] Ristory 1985, 62.
[11] Beide Zitate Ristory 1985, 63.
[12] Flotzinger 2006, 607, hält es für „zunehmend wahrscheinlich“, dass man in Wien und auch anderswo im 15. Jahrhundert für die Unterrichtung von Knaben Orgeln besaß.
[14] Rumbold/Wright 2006, 22, 23-26 (Tabelle), 31; in englischer Übersetzung 87, 88-91 und 95. Vgl. erstmals Rumbold 1982, 189-190.
[15] Wright 2010, 302-316, besonders 302.
[16] Vgl. als Überblick Schmid 2005.
[17] Rumbold/Wright 2009, 24.
[18] Vgl. die tabellarische Aufstellung des Inhalts bei Rumbold/Wright 2006, 117-142, wo jeweils detailliert angegeben ist, welche Schreiber am Werk waren.
[19] Schmid 1991, 52.
[20] Vgl. das Faksimile in Wright 2010, 315 und die Erläuterungen 313-314. Zu Pötzlingers Bibliothek vgl. Rumbold 1982, passim, hier 340; Rumbold/Wright 2009, 201-248
[21] Das System des Schreibers C ist ausführlich dargestellt bei Schmid 1991, 52-66. Eine Zusammenfassung gibt Wright 2010, 288-289, einen Überblick über die Notation des Codex insgesamt geben Rumbold/Wright 2006, 31-36 und in englischer Sprache 96-99.
[22] Wright 2010, 293-301.
[23] Wright 2010, 297, Notenbsp. 11-13, dazu die Erläuterungen 296 zu „variant (x)“.
[24] Vgl. Schmid 1991, 54 (untere Tabelle), 55 (Notenbeispiele).
[26] Vgl. Schmid 1991, 55, Notenbeispiel 14.
[27] Dieser Komponist hat in den letzten Jahren zunehmend Beachtung gefunden. So ist ihm Heft 49 Nr.2 (2004) der polnischen Fachzeitschrift Muzyka ausschließlich gewidmet. Den Texten sind jeweils Zusammenfassungen in englischer Sprache beigegeben.
[29] Vgl. Schmid 1991, 61, mit Notenbeispielen 26-30.
[30] Biografische Überblicke bei Wright 2007 und Flotzinger 2006a.
[32] Vgl. Wright 2007.
[33] Vgl. Schmid 1990, 80.
[34] Göllner 1967, 174-175; vgl. auch Ristory 1985, 54-61, mit diplomatischer Umschrift und Übertragung und moderne Notation; auch hier betont Ristory den didaktischen Aspekt.
[35] Vgl. Göllner 1967, 175-176 und Crane 1965, 237 (hier 238-242 eine nicht fehlerfreie Spartierung). Michael Shields liest für “run/deli” wohl irrig „ray/deleatur“: vgl. Shields 2011, 133, Anm. 11.
[36] Vgl. Strohm 1984, 212.
[37] Strohm 1984, 213.
[38] Bosse 1955, Melodie Nr. 35. Zum Rhythmus (cantus fractus) vgl. » A. Rhythmischer Choralgesang.
[39] Göllner 1967, 177.
Empfohlene Zitierweise:
Bernhold Schmid: “Organisten und Kopisten”, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/organisten-und-kopisten> (2017).