Du Fays Chanson Ce jour le doibt als Partitur in A-Wn, Cod. 5094
Fol. 148bis v von » A-Wn Cod. 5094 enthält Guillaume Du Fays Chanson Ce jour le doibt, die wohl etwas später als die anderen Stücke[3] von einem offenkundig geübten Notenschreiber eingetragen wurde, wie der Schriftduktus verrät. Das Stück ist hier allerdings nicht in der Weise aufgezeichnet, die im 15. Jahrhundert zu erwarten wäre, nämlich in hintereinander geschriebenen Einzelstimmen. Stattdessen haben wir eine Partitur vor uns (» Abb. Ce jour le doibt).
Die drei Stimmen sind in zwei Systemen notiert: Die hier untextierte, normalerweise texttragende Oberstimme in raschen Notenwerten steht in der oberen Zeile, unten sind der Tenor in hohlen Noten und der Contratenor schwarz aufgezeichnet. Ins Auge springen vor allem auch die Taktstriche. Wenn man von den wenigen Ligaturen (die jeweils den Wert zweier Semibreven, das heißt ganzer Noten haben) und der nicht stets exakten rhythmischen Zuordnung der Notenwerte zueinander absieht, haben wir im Grund genommen eine moderne Partitur vor uns (» Notenbsp. Ce jour le doibt).
Vergleicht man die Wiener Überlieferung mit den zwei konkordanten, jeweils chorbuchartigen Aufzeichnungen der Handschriften » GB-Ob Can. misc. 213 (fol. 79r) und » I-TRbc 87 (fol. 137v), dann fallen einige wichtige Details auf: So gibt es „in der Wiener Quelle geringfügige, aber dennoch beachtenswerte rhythmische Veränderungen.“[4] In T.12-14 wird durch die Versetzung einer Pause eine kurze Phrase verschoben. Insbesondere werden in der Wiener Partitur die in beiden anderen Quellen vorhandenen langen Ligaturen (Notenzeichen, die jeweils mehrere Töne beinhalten) der Unterstimmen zu Einzelnoten aufgelöst; außerdem werden Notenwerte, die jeweils länger als eine Mensur dauern, so aufgeteilt, dass die Werte innerhalb der Mensur, also innerhalb des durch die Taktstriche vorgegebenen Raumes, Platz finden. (Vgl. » Notenbsp.♫ Ce jour le doibt, T. 2-3, 5-6, 9-12, 13-14).[5] Die rhythmischen Varianten der Oberstimme lassen sich teilweise in den Kadenzfloskeln beobachten, bei denen im 15. Jahrhundert eine gewisse Freiheit herrscht. Ferner könnte es sein, dass die Vorlage für die Partitur nicht eine Quelle mit französischem Originaltext war, sondern eine (heute verlorene) Umtextierung in lateinischer Sprache. Sollte der neue Text hinsichtlich der Silbenzahl vom ursprünglichen Text abgewichen sein, dann wurde zwangsläufig ein Aufspalten oder Zusammenziehen von Notenwerten erforderlich, um den Text unterbringen zu können.
Der Schreiber der Partitur von Ce jour le doibt weicht von von den damaligen Regeln der Mensuralnotation ab. Normalerweise ist den Notenzeichen in der Mensuralschrift ihr Wert nicht unmittelbar anzusehen. Man hat jeweils die Noten davor und dahinter zu beachten, um den Wert eines bestimmten Zeichens zu erkennen. Im dreizeitigen Metrum, das bei unserer Chanson vorliegt, wird die Brevis (□) normalerweise zu drei Semibreven aufgeteilt, sie kann aber auch den Wert zweier Semibreven haben, z. B. wenn zweizeitiges Metrum (tempus) vorliegt. Und eine Semibrevis (◊) kann unter bestimmten Voraussetzungen ihren Wert verdoppeln, also den Wert einer zweizeitigen Brevis annehmen (» Notenbsp. Mensurale Notenwerte).
Unser Schreiber hingegen geht von einem quasi „modernen“ Denken aus: Jedem Zeichen ist sein Wert aus sich heraus anzusehen. Das bedeutet, dass die Brevis immer nur zwei Semibreven umfasst; soll sie um die Hälfte ihres Wertes verlängert werden, wird sie punktiert. Und schließlich kann eine Semibrevis ihren Wert nicht verdoppeln. (Die Halbierung der Semibrevis erfolgt durch Stielung; dies ist beim vorliegenden Metrum aber auch im mensuralen Denken der Fall.) Die Notation der Partitur ist für uns also problemlos auch ohne Kenntnis der mensuralen Regeln lesbar.[6]
[3] Strohm 1984, 213.
[4] Ristory 1985, 62.
[5] Die Abweichungen zusammengefasst nach Ristory 1985, 62-63. Vgl. auch Wright 2010, 292-294.
[6] Die Notation ist erläutert bei Göllner 1967, 174, und neuerdings bei Wright 2010, 290-294
[1] Vgl. Census-Catalogue of Manuscript Sources of Polyphonic Music 1400-1550, 5 Bände, Stuttgart 1979-1988, Band 4, 89; » F. Quellenporträts.
[2] Eine erste inhaltliche Auflistung bei Strohm 1984, 227-228.
[3] Strohm 1984, 213.
[4] Ristory 1985, 62.
[5] Die Abweichungen zusammengefasst nach Ristory 1985, 62-63. Vgl. auch Wright 2010, 292-294.
[6] Die Notation ist erläutert bei Göllner 1967, 174, und neuerdings bei Wright 2010, 290-294.
[7] Crane 1965, 237 und 243; ähnlich Göllner 1967, 173, der das Buxheimer Orgelbuch » D-Mbs Mus.ms. 3725 (München, Bayerische Staatsbibliothek, Mus.ms. 3725) ins Spiel bringt.
[8] Crane 1965, Zitat 243.
[9] Göllner 1967, 172.
[10] Ristory 1985, 62.
[11] Beide Zitate Ristory 1985, 63.
[12] Flotzinger 2006, 607, hält es für „zunehmend wahrscheinlich“, dass man in Wien und auch anderswo im 15. Jahrhundert für die Unterrichtung von Knaben Orgeln besaß.
[14] Rumbold/Wright 2006, 22, 23-26 (Tabelle), 31; in englischer Übersetzung 87, 88-91 und 95. Vgl. erstmals Rumbold 1982, 189-190.
[15] Wright 2010, 302-316, besonders 302.
[16] Vgl. als Überblick Schmid 2005.
[17] Rumbold/Wright 2009, 24.
[18] Vgl. die tabellarische Aufstellung des Inhalts bei Rumbold/Wright 2006, 117-142, wo jeweils detailliert angegeben ist, welche Schreiber am Werk waren.
[19] Schmid 1991, 52.
[20] Vgl. das Faksimile in Wright 2010, 315 und die Erläuterungen 313-314. Zu Pötzlingers Bibliothek vgl. Rumbold 1982, passim, hier 340; Rumbold/Wright 2009, 201-248
[21] Das System des Schreibers C ist ausführlich dargestellt bei Schmid 1991, 52-66. Eine Zusammenfassung gibt Wright 2010, 288-289, einen Überblick über die Notation des Codex insgesamt geben Rumbold/Wright 2006, 31-36 und in englischer Sprache 96-99.
[22] Wright 2010, 293-301.
[23] Wright 2010, 297, Notenbsp. 11-13, dazu die Erläuterungen 296 zu „variant (x)“.
[24] Vgl. Schmid 1991, 54 (untere Tabelle), 55 (Notenbeispiele).
[26] Vgl. Schmid 1991, 55, Notenbeispiel 14.
[27] Dieser Komponist hat in den letzten Jahren zunehmend Beachtung gefunden. So ist ihm Heft 49 Nr.2 (2004) der polnischen Fachzeitschrift Muzyka ausschließlich gewidmet. Den Texten sind jeweils Zusammenfassungen in englischer Sprache beigegeben.
[29] Vgl. Schmid 1991, 61, mit Notenbeispielen 26-30.
[30] Biografische Überblicke bei Wright 2007 und Flotzinger 2006a.
[32] Vgl. Wright 2007.
[33] Vgl. Schmid 1990, 80.
[34] Göllner 1967, 174-175; vgl. auch Ristory 1985, 54-61, mit diplomatischer Umschrift und Übertragung und moderne Notation; auch hier betont Ristory den didaktischen Aspekt.
[35] Vgl. Göllner 1967, 175-176 und Crane 1965, 237 (hier 238-242 eine nicht fehlerfreie Spartierung). Michael Shields liest für “run/deli” wohl irrig „ray/deleatur“: vgl. Shields 2011, 133, Anm. 11.
[36] Vgl. Strohm 1984, 212.
[37] Strohm 1984, 213.
[38] Bosse 1955, Melodie Nr. 35. Zum Rhythmus (cantus fractus) vgl. » A. Rhythmischer Choralgesang.
[39] Göllner 1967, 177.
Empfohlene Zitierweise:
Bernhold Schmid: “Organisten und Kopisten”, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/organisten-und-kopisten> (2017).