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Elevatio crucis und Visitatio sepulchri

Stefan Engels

Am frühen Morgen des Ostersonntags nahm ein Priester noch vor Ankunft der Kleriker bzw. des Mönchskonventes das Kreuz unter dem Gesang passender Psalmen aus dem Heiligen Grab und trug es zum Chor – ein Symbol für die Auferstehung Christi in der Stille der Nacht (elevatio crucis). Dann erst erschienen die Mönche bzw. Kleriker in der Kirche und sangen die Matutin bis zum Te Deum. Es bildete sich eine Prozession zum Heiligen Grab: Es war „leer“! Nun folgte ein außergewöhnliches Phänomen, das sich in der gesamten mittelalterlichen abendländischen Liturgie findet, die visitatio sepulchri, der Besuch der Frauen am Grab. Es handelt sich um ein echtes liturgisches Spiel, das sich von den symbolischen Handlungen und ausdeutenden Riten klar unterscheidet. Die Kleriker (im österreichischen Raum in der Regel Diakone), welche die drei Marien, den Engel und die beiden Apostel Petrus und Johannes darstellten, wurden zu echten Schauspielern. Die liturgischen Handschriften sprechen nicht mehr von diaconi, sondern von den tres mulieres, dem angelus etc. Die liturgischen Gewänder und Geräte wurden zu Requisiten: Die weiten Rauchmäntel sollten die Frauenkleider darstellen, das liturgische weiße Untergewand, die Albe, wurde zum weißen Kleid des Engels und die Weihrauchgefäße stellten die Salbengefäße dar. Schließlich änderte sich die dargestellte Zeit. Liturgische Zeremonien vollziehen stets Gegenwärtiges (die depositio crucis erfolgt im „Jetzt“ durch den Zelebranten gleichsam als Erinnerung an und Meditation über die Grablegung Christi). Bei einem Spiel hingegen wird im Gegensatz dazu ein Geschehen aus der Vergangenheit nachgespielt.[29] Bei der visitatio sepulchri ist es der Besuch der Frauen am Grab Christi am Morgen des Ostertags, wie er sich damals nach den Berichten in den Evangelien abgespielt hat. Im süddeutschen Raum wurde in der Regel der so genannte Typ II verwendet. Er besteht aus dem Dialog des Engels mit den Frauen und dem anschließenden Wettlauf der Apostel Petrus und Paulus zum Grab. Den Abschluss bildete das vom Volk gesungene Christ ist erstanden, ein Osterlied, das um die Mitte des 12. Jahrhunderts, wahrscheinlich in der Passauer Diözese, zum ersten Mal dokumentiert ist.

[29] Ausführlicher bei Engels 2014.