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Oswald von Wolkenstein, ein frommer Laie?

Ute Monika Schwob

Die Frage, ob auch Oswald von Wolkenstein ein auf ihn persönlich zugeschnittenes Haus- oder Gebetbuch für fromme Laien besessen hat, entzieht sich der Forschung, da von der Wolkensteinischen Bibliothek nichts überliefert ist. In Anbetracht seiner engen Beziehungen zu den Augustiner Chorherren von Neustift und erst recht angesichts der Fülle von geistlichen Themen und Motiven, die er in seinen Liedern ausbreitet, ist schwerlich anzunehmen, dass er seine Kenntnisse nur aus Predigten, bildlichen Darstellungen, mündlichen Unterweisungen und Passionsspielen bezogen hat. Er war vermutlich ein intensiv lesender, nachweislich ein selbst formulierender frommer Laie mit teils archaischen, teils für seine Zeit hochaktuellen Ansichten. Dem Mystischen, Spekulativen, gelehrt Theologischen ist er ausgewichen, das verbindet ihn mit der Devotio Moderna. Dass seine geistlichen Lieder – oft mit fließenden Übergängen ins Weltliche – mehr als ein Viertel seines Gesamtwerks ausmachen, wird in der wissenschaftlichen Literatur gern vernachlässigt, obwohl der Autor diesen für ihn persönlich wesentlichen Teil seines Schaffens zumindest in der » „Innsbrucker Handschrift“ (B) – ansatzweise auch schon in der » „Wiener Handschrift“ (A) – zusammengerückt und demonstrativ an den Anfang gesetzt hat. (Vgl. auch » B. Oswalds Lieder)

Sein breites Spektrum an geistlichen Themen, teils im autobiographischen Kontext, teils in der geistlichen Liedtradition – etwa des Mönchs von Salzburg – vorgetragen, entzieht sich einer durchgehenden Kategorisierung: Da finden sich geistliche Tagelieder neben Tischsegen, Gottespreis, Sündenkatalog und Beichtspiegel, Passionslied, Marienlieder in komplexer Variationsbreite und vor allem eine ansehnliche Gruppe von erbaulich-didaktischen Reflexionsliedern, die Gottesfurcht und Weltabsage, Teufels- und Todesangst oder Altersklage mit einem Aufruf zur Umkehr und Glaubenshoffnung verbinden.[33] Vom geistlichen Inhalt her eher schlicht und wenig interessiert an einer Gebrauchsfunktion sucht Oswald von Wolkenstein die ausgefallene literarische Qualität: eigenwillig, subjektiv, eindringlich und punktuell biographisch konkretisiert. „Ich Wolkenstein“ ist sozusagen sein eigenes Exempel.

Ob der historische Oswald von Wolkenstein geeignet ist, für den frommen Laien seiner Zeit zu stehen, kann manchen Bedenken zum Trotz eindeutig bejaht werden. Dieser zwar in Gottesfurcht, aber doch zum Krieger erzogene Adelige, zeitlebens in Rechtshändel und Fehden verstrickt, auf weltliche Karriere und Vermögensgewinn bedacht, hat alle Frömmigkeitsformen seiner Standes- und Zeitgenossen mitgetragen: Seine Verehrung der Gottesmutter offenbart er in zahlreichen, die gesamte Bandbreite dieser Liedtradition umfassenden Marienliedern. Mit einer Reihe von Stiftungen, unter denen das St. Oswald-Benefizium im Brixner Dom mit zwei Messpriestern seine Vermögensverhältnisse im Grunde überstieg, hat er sich bei kirchlichen Institutionen seiner Heimat beliebt gemacht. Er war Mitglied von genossenschaftlichen Einungen, die dem Totengedächtnis verpflichtet, und von Orden, die dem Glaubenskrieg gewidmet waren. Er ging auf Wallfahrten und besuchte alle berühmten Pilgerstätten seiner Epoche. Er beteiligte sich trotz seines hinderlichen Augenschadens an Preußenfahrten und am Hussitenkrieg. In Glaubensfragen ließ er seinen Adelsstolz beiseite. Er versuchte sogar, vergangene Ungerechtigkeit durch Spenden an Ortskirchen wieder gut zu machen. Nicht zuletzt betrachtete er sich selbst, wie sein Brixner Stifter- und Gedenkstein von 1408 illustriert, als „christlichen Ritter“ im Dienst der Glaubensgemeinschaft.[34]