Bücher in geistlichem Privatbesitz
Was den Bücherbestand der Wiener Geistlichen betrifft, so wurde dieser in der Regel post mortem der Dombibliothek vermacht. Der Nachlass des Wiener Priesters Nikolaus Kammerstorfer demonstriert die minuziöse Planung eines Erblassers für die Weiterreichung seiner Bücherbestände.[44] Am Ende der Aufzählung seiner Büchersammlung, die über zwanzig Exemplare umfasst, werden ein „Mettepuch“ sowie „ein puch uber cantica“ erwähnt: also wohl ein Brevier zu den Offizien der Matutin und theologische Kommentare zu den biblischen Cantica. Über Kammerstorfer ist außer seinem priesterlichen Rang nichts Weiteres bekannt.
Aufschlussreicher für die Rekonstruktion der Bibliotheksbestände der geistlichen Repräsentanten Wiens im 15. Jahrhundert erscheint das Testament des Chormeisters zu St. Stephan, Jakob Scherhauf, datiert auf den 11. November 1419.[45] Scherhaufs Testament wurde am 20. Juni 1420 dem Rat der Stadt vorgelegt. Der Textwortlaut gibt allerlei Auskunft nicht nur über den materiellen Wert der Bücher, sondern auch über die Absicht des Erblassers, durch den Verkaufsgewinn seiner Bestände eine Stiftung zur Befreiung der Seele aus dem Fegefeuer zu erzielen. Gleich am Anfang seines Testats heißt es:
„Item meinew pucher sol man ettleiche Verchauffen. Item secundam secunde sancti Thome de Aquino, die ich chaufft hab umb achtzehen guldein. […] Die obegenannten pucher alle schaff ich ze verkauffen und das man mir es alles anleg zu hayl meiner seel, so wie es allerpesst fueg mir mit meinenn lieben geschefftherren, das man mir ze stund und ymerdar mess les, das ich nur aus dem leyden kome des vechfewrs…“
(Weiters soll man etliche meiner Bücher verkaufen. Weiters das zweite Kapitel des zweiten Buchs des Thomas von Aquin, das ich um 18 Gulden gekauft habe. […] Die oben genannten Bücher bestimme ich alle zum Verkauf, um den Erlös zu meinem Seelenheil anzulegen, so wie es meinen lieben Testamentsvollstreckern am besten erscheint, dass man mir jetzt und auf ewig Messen lese, damit ich nur aus dem Leiden des Fegefeuers entkomme…)
Lediglich ein einziges Lehrexemplar schafft eine mögliche Verbindung zum Lehrumfeld der Universität. So heißt es zu Beginn des Testats: „Item questiones quarti sentenciarum, als man hie in der schul hat, die ist auch wol funf guldein wert“. Es handelt sich hierbei um die libri sentenciarum von Thomas v. Aquin, die Bestandteil des universitären Curriculums waren.[46] Mit „Schul“ ist hier wohl das Collegium ducale gemeint. Seinen Kollegen, den Chorherren von St. Stephan übergab Scherhauf „das gut diurnale in einner gruen hawtt und ein gemaits chesstel mit messernn“ (das gute Diurnale in grünem Pergamenteinband und ein bemaltes Kästchen mit Messern). Die Büchersammlung Jakob Scherhaufs war für die damaligen Verhältnisse von beachtlichem Umfang, zeichnete sich allerdings durch einen theologischen Schwerpunkt aus und lässt erneut die Erwähnung musikalischer Werke vermissen.
Besonders interessant ist die Erwähnung eines Thomas von Weitra als einer der Erben am Ende des Testaments: „Item Herrn Thomann von Weithra, der da haisset der Velber, meinem lieben sundernn frewnt und gunner auch meinem gescheftherren, schaff ich ein leffelfueter mit vier oder fumf gueter loffl und den grossen umbhankch, denn die almar ze den puechern“. Es ergibt sich der glückliche Umstand, dass der Name Thomas von Weitra aus Dokumenten aus dem Umfeld der Wiener Universität gut bekannt ist. Aus Weitra stammend, immatrikulierte er 1469 als pauper in Wien und ist als magister regens 1474/75 nachweisbar. Auf der Spiegelseite des Vorderdeckels von A-Wn Cod. 4382 konnte eine bislang nicht edierte Bücherliste von Magister Thomas de Weitra (genannt Velber) identifiziert werden. Darin sind 23 Titel theologischen Inhalts als Legat an das Schottenstift vermerkt: „Hunc librum contulit in monasterio beate marie virginis alias scotorum Wienne honorabilis Dominus Thomas de Weytra presbiterus Pataviensis dyocesis ut Vienna“.[47] Ein weiteres Exemplar konnte seinem Besitz zugeordnet werden. Es handelt sich um die theologische Sammelhandschrift A-Wn Cod. 4173.[48] Dass der Chormeister von St. Stephan dem „magister Thomas von Weitra“ ausgerechnet keine Bücher, sondern wertvolle Alltagsgegenstände wie einen Umhang, Löffel und einen Almar (=armarius?) vermachte, spricht für die gut ausgestattete Bibliothek des Empfängers.
[44] Näheres zu dieser Hinterlassenschaft vgl. Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 455.
[45] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 453.
[46] Siehe Simader ab 2007. Unter vielen anderen Erwähnungen dieses Werkes sei folgende Urkunde von 1438 vermerkt: Ein unbekannter Bürger der Stadt schenkt „ad librariam collegii ducalis (…) multi pretiosi libri“, u. a. ist das „libri sententiarium“ angegeben (http://www.onb.ac.at/sammlungen/hschrift/kataloge/universitaet/Artistenfakultaet.htm [27.05.2016]). Cf. Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 464, und Cod. 10061b, fol. 137r.
[47] Siehe zu A-Wn Cod. 4382 in Zapke, Urbane Musik. Zu Andreas von Weitra siehe ebenda unter Prosopographie.
[48] Vgl. Scriptores possessoresque Codicum medii aevi, Datenbank des Dr. Erwin Rauner Verlags, Bayerische Staatsbibliothek: https://www.nationallizenzen.de/angebote/nlproduct.2007-02-24.7849618050.
[1] Blumenberg 1986, 17.
[3] Zum Stiftungswesen der Wiener Burgkapelle siehe Wolfsgruber 1905. Vgl. zu musikalischen Stiftungen » D. SL Waldauf-Stiftung; » J. Formen der Laienfrömmigkeit; Strohm 2009.
[4] Zum Zeitbewusstsein liturgischer Stiftungen vgl. auch Strohm 2014, 22 ff.
[5] Wolfsgruber 1905, 26.
[8] Simader ab 2007. Zur soziologischen Untersuchung der städtischen Gelehrtenkulturen (gens de savoir) und des Wissens als Herrschaftsinstrument siehe Kintzinger 2003.
[9] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 104–118: „Anno ab incarnacione domino MCCCXXX festo nativitatis virginis gloriose registrati sunt libri bibliotece ecclesie Newurgensis a magistro Martino…“. Ab fol. 10r finden sich alle üblichen Lehrbuchtypen eines Schulbetriebes: „libri artis arismetrice, libri musicales, libri Tullii, auctores gramaticales …“. Die Verbindung von Klosterneuburg zur Wiener Universität ist ausreichend dokumentiert.
[10] Katalog von 1483, A-M Cod. 948. Cf. Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 236; siehe auch Glaßner 2000. Zum Inhalt von A-M Cod. 950 vgl. » C. Mensuraltheorie - Didaktische Aufbereitung.
[11] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 142.
[12] Edition des in Versform geschriebenen Mensuraltraktates, einschließlich eines mehrstimmigen Stücks auf fol. 209v–210 r: Gallo 1971.
[13] Siehe hierzu Glaßner 2010.
[14] Ich danke Frau Christine Glaßner für ausführliche Information bezüglich A-M Cod. 749.
[15] Strohm 1984; Cuthbert 2010; hier beschrieben als “Wiener Codex”, » K. Musikalische Quellenporträts. Die Fragmente waren zuvor (ohne Beziehung zu Wien) erwähnt worden in Staehelin 1974, 238, Anm. 4, und Angerer 1972/1973 (mit Abb.).
[17] Die Aufstellung resultiert vorwiegend aus der Untersuchung in Zapke 2012. Zur Beschreibung der einzelnen Handschriften siehe: www.susanazapke.com. Es konnten bezüglich der Musicalia keine weiteren Erkenntnisse aus der Datenbank von Simader ab 2007 und aus der Ausgabe Wagendorfer 2011 gewonnen werden.
[18] Dieses Makulatur-Fragment ist nachgewiesen in Lackner 2000, 390 f. Näheres in Wright 2009. Die Fragmente wurden inzwischen von ihrer Trägerhandschrift abgelöst, siehe Wright 2016.
[19] Hierzu vgl. besonders Zapke 2014, 362 f.
[20] Zu den Musikalien der Kantorei vgl. » E. Musik im Gottesdienst; Strohm 2014, 25 f.
[21] Es gibt derzeit keinen Beleg über eine eigentliche Bibliothek der Bürgerschule.
[22] Details bei Zapke 2014, 364 f.
[23] Vgl. » C. Musik für Tasteninstrumente; » C. Organisten und Kopisten; » C. Kompositorische Lernprozesse; Strohm 1984; Zapke 2014, 372 ff.
[24] Vgl. Zapke 2014, 365–369.
[25] Vgl. Zapke 2014, 370 f.
[26] Die bekannte Liedersammlung Eghenvelders in dieser Handschrift wird besprochen von Marc Lewon in » B. Das Phänomen „Neidhart“; weitere Details in Lewon 2014.
[27] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 267 f. Vgl. » E. Zwei Inventare.
[28] Die Identifizierung von Melker Musikhandschriften aus dem Umfeld der Wiener Universität und des Stephansdomes ist Gegenstand einer künftigen Untersuchung. Siehe Glaßner 2010. Hier sind lediglich die musiktheoretischen Traktate aus dem 15. Jahrhundert mit Vorbehalt aufgelistet.
[29] Vgl. Zapke 2012, 218.
[30] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 476.
[31] Zur Frage der Buchbestände im Collegium civium vgl. auch Zapke 2014, 252, Anm. 9.
[32] Siehe die Dombibliothek zu St. Stephan in Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 270–282.
[33] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 273.
[34] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 266 f.
[35] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 277.
[36] Büchersammlungen der Wiener Bischöfe sind erst im 16. Jahrhundert attestiert. Erste Ansätze zur Errichtung einer erzbischöflichen Bibliothek gab es unter Bischof Slatkonia (1515–1522), cf. Lackner 2000, 37 f.
[37] Gottlieb 1915/1974, 283 f.
[38] Zum Seckauer Cantionarius von 1345 vgl. » A. Weihnachtsgesänge; zu den Cantionalien Johannes Lupis » G. Johannes Lupi; zu jenen des Stephansdomes Strohm 2014 und » E. Musik im Gottesdienst: Wien.
[39] Das Wappen der Tirna befindet sich an der Außenseite und die Grabplatte aus rotem Marmor am Eingang der Kapelle. Vgl. Schedl 2009, 48; Kohn, Inschriften.
[40] Freundliche Auskunft von Univ.-Doz. Dr. Barbara Schedl, Projektleiterin des FWF Forschungsprojekts St. Stephan in Wien. Architektur der Schriftquellen.
[41] Acta Facultatis Artium, vgl. Uiblein 1968.
[42] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 272.
[43] Lackner 2000, Bd. 1, 517 f. Die Urkunde ist ediert in Uhlirz 1895, CXXI, Nr. 13299.
[44] Näheres zu dieser Hinterlassenschaft vgl. Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 455.
[45] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 453.
[46] Siehe Simader ab 2007. Unter vielen anderen Erwähnungen dieses Werkes sei folgende Urkunde von 1438 vermerkt: Ein unbekannter Bürger der Stadt schenkt „ad librariam collegii ducalis (…) multi pretiosi libri“, u. a. ist das „libri sententiarium“ angegeben (http://www.onb.ac.at/sammlungen/hschrift/kataloge/universitaet/Artistenfakultaet.htm [27.05.2016]). Cf. Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 464, und Cod. 10061b, fol. 137r.
[47] Siehe zu A-Wn Cod. 4382 in Zapke, Urbane Musik. Zu Andreas von Weitra siehe ebenda unter Prosopographie.
[48] Vgl. Scriptores possessoresque Codicum medii aevi, Datenbank des Dr. Erwin Rauner Verlags, Bayerische Staatsbibliothek: https://www.nationallizenzen.de/angebote/nlproduct.2007-02-24.7849618050.
[49] Vgl. Simader ab 2007.
[50] Die erste Erwähnung des Fragments (mit Faksimile einer Seite) findet sich in Lackner 2000, 260 f. Beschreibung und Faksimile beider Seiten in Zapke/Wright 2015.
[51] Eine vergleichende Untersuchung der Dekanatsakten seiner Amtsperiode – 1426, 1430, 1441, 1443, 1452 – ist zwar noch ausständig, könnte aber mehr Licht in diesen Zusammenhang bringen. Vgl. auch Prosopographie, Andreas von Weytra in: www.susanazapke.com [27.05.2016].
[52] Dies im Gegensatz zur Bibliothek des Priesters und Universitätsangehörigen Hermann Pötzlinger, beschrieben in Rumbold/Wright 2009, 205–214. Pötzlinger war allerdings kein Mitglied des Stephansklerus.
[53] Vgl. hier » E. Musik im Gottesdienst und » E. Überlieferung der Wiener Kirchenmusik..
Empfohlene Zitierweise:
Susana Zapke: “Universität und Musik. Musikbücher im universitären Umfeld “, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/universitat-und-musik-musikbucher-im-universitaren-umfeld> (2016).