Mensuraltraktate – Abweichungen vom klassischen System
Ein Traktat aus Mondsee aus der Zeit um 1400 (überliefert in » A-Wn Cod. 5003, fol. 202v–204r) verwendet nicht die übliche ternäre (dreizeitige), sondern eine binäre (zweizeitige) Mensuration: Die (einem Takt entsprechende) Brevis wird in zwei gleiche Semibreven geteilt (zwei Halbe).[10] Dieser Ansatz, der für uns heute ganz selbstverständlich wäre, widerspricht jedoch dem „klassischen“ franconischen System, das von Dreizeitigkeit ausgeht (was umso merkwürdiger ist, als in derselben Quelle die bekannte Schrift des Franco von Köln zusammengefasst und ergänzt wird). So widersetzte sich dieser Text lange der Einordnung in eine linear verlaufende Geschichte der Musiktheorie, bis die neuere Forschung erkannte, dass zwischen den (zudem nicht ganz konsistenten) Aussagen des Theoretikers und der damaligen Kompositions- und Notationspraxis doch engere Verbindungen bestehen.[11] Die im Incipit genannten Gattungen Motette und Conductus werden demnach nicht zufällig erwähnt, sondern sind konkrete Hinweise auf die zentraleuropäische Rezeption dieser Genres und deren Transformationen (wie sie etwa im sogenannten Engelberger Motettenstil manifest werden). (» C. Ars antiqua und Ars nova)
- die zweizeitige Teilung der Longa und der Brevis;
- die Notation einzelner Semibreven als quadratische Formen (und nicht wie üblich als Rhomben, daher nur verständlich im Sinne einer Kontextnotation, innerhalb derer Breven und Semibreven im musikalischen Zusammenhang zu unterscheiden sind);
- die Ligaturenschreibung (z. B. werden zwei absteigende Breven ohne Cauda (Notenhals) geschrieben, was normalerweise für zwei Longen steht:);
- die Caudierung (die keine rhythmische Wertveränderung anzuzeigen scheint).
Insgesamt spricht vieles dafür, dass die oft pragmatische Darstellung der Mensuralnotation in diesem Text vom Umgang mit praktischen Quellen geprägt ist. Bernhold Schmid nennt » GB- Lbl Add. 27630, aus Prag oder Süddeutschland, und » PL-Kj Berol. Mus. ms. 40580 [olim D-Bds Mus. ms. 40580], aus dem Wiener Minoritenkonvent, als Vergleichsquellen.[12] So steht am Beginn der Motette Ave Ihesu Christe / O premium der Londoner Handschrift (fol. 53v, Oberstimme) die Ligatur nicht wie in der ‚korrekten‘ Lesart für Brevis-Longa, sondern für zwei Breven, entspricht also dem Grundrhythmus lang-kurz-kurz-lang dieses Stücks.
[10] Edition: Ristory 1987, 65–75.
[11] Vgl. Schmid 1998.
[12] Vgl. Schmid 1998.
[2] Vgl. Rausch 2001b, 77–95 (mit Edition aus A-M Cod. 1099).
[3] Vgl. Rausch 2008. [bib]914[/bib]
[5] Vgl. Angerer 1979.
[6] Vgl. Flotzinger 2002 (mit Übertragung der drei zweistimmigen Motetten).
[7] Zu den Versionen in Michaelbeuern und Melk siehe auch Welker 2005, 75f.
[8] Aktuelle Edition: Rausch 2001a, 287 (Verse 77ff).
[9] So z. B. im „Melker Anonymus“, ed. in Gallo 1971, 15. Ähnlich auch im Breslauer Mensuraltraktat (ed. in Wolf [1918–19]).
[10] Edition: Ristory 1987, 65–75.
[11] Vgl. Schmid 1998.
[12] Vgl. Schmid 1998.
[13] Siehe Welker 2005.
[15] Für den Terminus „cantus acquisitus“ kennt das Lexicon musicum Latinum medii aevi, hrsg. von Michael Bernhard, München 2006, Bd. 1 (A–D), 381, nur diesen einen Beleg.
[17] Vgl. Strohm 1993, 122–124.
[18] Vgl. Witkowska-Zaremba 1998.
[19] Mit dem Terminus „viroletum“ konnte der Kopist nichts anfangen, an der Stelle befindet sich eine Lücke.
[20] Edition: Ristory1987
[21] Vgl. Bent 2007, 68–70, und Strohm 1993, 108–111.
[22] Vgl. Rumbold/Wright 2009, 167–172.
[23] Vgl. Meyer 2001. Auszüge aus der Handschrift A-Iu Cod. 962 wurden von Christian Meyer in seinem Aufsatz transkribiert. Das altfranzösische Proportionskapitel bei Federhofer-Königs 1969. Vgl. Strohm 1993, 292.
[24] Datenbank Repertorium Academicum Germanicum der Universitäten Bern und Gießen, URL: http://www.rag-online.org/index.php/de/datenbank/abfrage.html [02.09.2013].
[25] Heute in der Warschauer Nationalbibliothek: PL-Wn Cod. BOZ 61. Edition: Witkowska-Zaremba 2001.
[26] Vgl. Rauter 1989, Kap. VI, 86. Im Art. „Gurk“ von Walburga Litschauer, in: Oesterreichisches Musiklexikon, Bd. 2, Wien 2003, 645 (URL: http://www.musiklexikon.ac.at [14.04.2014]) wird der Traktat nicht genannt. Der Text wird aber schon von Gruber 1995, 171 (Anm. 2 auf 209) erwähnt.
[27] Vgl. Rumbold/Wright 2009, 122.
[28] Vgl. Rauter 1989, Kap. II, 49–62; vgl. die Übersicht, 43.
[30] Rauter 1989, 49 f. und 53.
[31] Dazu Schmid 1995.
Empfohlene Zitierweise:
Alexander Rausch: „Spekulative Musiktheorie und Chorallehre“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/spekulative-musiktheorie-und-chorallehre> (2016).