Musiktheorie als Lehrfach und Bildungsgut
Ähnlich wie an modernen Universitäten und Fakultäten existierte auch im Mittelalter ein Lehrfach „Musikwissenschaft“, damals meistens als „ars musica“, „musica scientia“ oder einfach nur als „musica“ bezeichnet. Diese sogenannte spekulative Musiktheorie als eigenständige oder mit verwandten Disziplinen in einem Semester gelehrte Vorlesung hob sich von dem, was wir heute unter dem Fach Musiktheorie verstehen, insofern ab, als Praxisbezüge weitgehend ausgeklammert wurden. Vielmehr fügte sich die (ars) musica in den Verband der septem artes liberales ein, also jene sieben Wissenschaften/Künste, die ein freier (wirtschaftlich unabhängiger) Mann studieren musste, um einen akademischen Grad (B.A.) zu erwerben und um weitere Studien inskribieren zu können. Als Voraussetzung (Propädeutik) für Philosophie, Jus oder Theologie waren zum einen Arithmetik, Musiktheorie, Geometrie, Astronomie (das Quadrivium) und zum anderen Grammatik, Rhetorik, Dialektik (das Trivium) unabdingbar für den sozialen Aufstieg eines Studenten. Für die Musiktheorie waren als Lehrtexte Boethius (De institutione musica) und seit dem 14. Jahrhundert auch Johannes de Muris (Musica) vorgesehen.
Als Bildungsgut ist die Musiklehre allerdings in einem weiteren – über den Universitätsbetrieb hinausgehenden – Zusammenhang zu betrachten. So machten die Schüler, die Lesen und Schreiben, die Psalmen oder den Kalender erlernten, zumindest rudimentär mit spekulativer Musiktheorie Bekanntschaft (z. B. mit den Proportionen als Basis der Intervallehre), was die Einleitungen zahlreicher Lehrschriften dokumentieren. Das Einüben in die Praxis (das Psalmensingen als Grundlage der Liturgie) war naturgemäß dem mündlichen Unterricht, in Klöstern der Unterweisung durch einen Gesangmeister, vorbehalten. Aber auch in diesem Bereich hat sich sehr früh (im Grunde genommen seit der Musica enchiriadis aus dem 9. Jahrhundert) eine Tendenz zur Verschriftlichung durchgesetzt, die von der Dynamik der Notenschrift befördert wurde. Die Notenbeispiele in den Traktaten – sowohl der mehrstimmigen wie der einstimmigen Musik – stellen einen wesentlichen Teil des Fachschrifttums dar.
[1] Für einen Überblick, der auch einige Beziehungen zur Musiktheorie impliziert, vgl. Ward 2001.
[2] Vgl. Rausch 2001b, 77–95 (mit Edition aus A-M Cod. 1099).
[2] Vgl. Rausch 2001b, 77–95 (mit Edition aus A-M Cod. 1099).
[3] Vgl. Rausch 2008. [bib]914[/bib]
[5] Vgl. Angerer 1979.
[6] Vgl. Flotzinger 2002 (mit Übertragung der drei zweistimmigen Motetten).
[7] Zu den Versionen in Michaelbeuern und Melk siehe auch Welker 2005, 75f.
[8] Aktuelle Edition: Rausch 2001a, 287 (Verse 77ff).
[9] So z. B. im „Melker Anonymus“, ed. in Gallo 1971, 15. Ähnlich auch im Breslauer Mensuraltraktat (ed. in Wolf [1918–19]).
[10] Edition: Ristory 1987, 65–75.
[11] Vgl. Schmid 1998.
[12] Vgl. Schmid 1998.
[13] Siehe Welker 2005.
[15] Für den Terminus „cantus acquisitus“ kennt das Lexicon musicum Latinum medii aevi, hrsg. von Michael Bernhard, München 2006, Bd. 1 (A–D), 381, nur diesen einen Beleg.
[17] Vgl. Strohm 1993, 122–124.
[18] Vgl. Witkowska-Zaremba 1998.
[19] Mit dem Terminus „viroletum“ konnte der Kopist nichts anfangen, an der Stelle befindet sich eine Lücke.
[20] Edition: Ristory1987
[21] Vgl. Bent 2007, 68–70, und Strohm 1993, 108–111.
[22] Vgl. Rumbold/Wright 2009, 167–172.
[23] Vgl. Meyer 2001. Auszüge aus der Handschrift A-Iu Cod. 962 wurden von Christian Meyer in seinem Aufsatz transkribiert. Das altfranzösische Proportionskapitel bei Federhofer-Königs 1969. Vgl. Strohm 1993, 292.
[24] Datenbank Repertorium Academicum Germanicum der Universitäten Bern und Gießen, URL: http://www.rag-online.org/index.php/de/datenbank/abfrage.html [02.09.2013].
[25] Heute in der Warschauer Nationalbibliothek: PL-Wn Cod. BOZ 61. Edition: Witkowska-Zaremba 2001.
[26] Vgl. Rauter 1989, Kap. VI, 86. Im Art. „Gurk“ von Walburga Litschauer, in: Oesterreichisches Musiklexikon, Bd. 2, Wien 2003, 645 (URL: http://www.musiklexikon.ac.at [14.04.2014]) wird der Traktat nicht genannt. Der Text wird aber schon von Gruber 1995, 171 (Anm. 2 auf 209) erwähnt.
[27] Vgl. Rumbold/Wright 2009, 122.
[28] Vgl. Rauter 1989, Kap. II, 49–62; vgl. die Übersicht, 43.
[30] Rauter 1989, 49 f. und 53.
[31] Dazu Schmid 1995.
Empfohlene Zitierweise:
Alexander Rausch: „Spekulative Musiktheorie und Chorallehre“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/spekulative-musiktheorie-und-chorallehre> (2016).