Der lesende Laie
Wer sich in Tiroler Archiven nach Überresten religiöser Literatur aus Bibliotheken von spätmittelalterlichen Laien umsieht, stößt auf eben diese Art von neuer Frömmigkeit. So ließen sich einige Tiroler Adelsfamilien wie die Herren von Freundsberg Erbauungsbücher zusammenstellen, die als Vorläufer der späteren Hauspostillen gelten können.[30] Sie enthalten ganze Partien aus dem im Spätmittelalter weit verbreiteten „Büchlein der ewigen Weisheit“ des Dominikaners Heinrich Seuse (gest. 1366), der eine intensive Imitatio-Christi-Mystik vertrat, ferner Darstellungen der Leiden Christi, Darlegungen über Tugenden und Laster sowie Messerklärungen. Besonders aufschlussreich bezüglich der religiösen Einstellung seines Auftragsgebers ist der später so genannte „Tiroler Christenspiegel“, den sich Georg von Gufidaun um 1400 im Augustiner Chorherrenstift Neustift zusammenstellen und schreiben ließ. Dort wird pragmatisch auf den Nutzen der Zuwendung zu Gott hingewiesen: „Wie vil des nutzes ist, der an vnsres herren minne leit, das mag niemant erzelen“. [31] Georg von Gufidaun bedurfte dieser Anleitung. Als Mitglied einer Familie von raubeinigen Landadeligen, ebenso machthungrig, rechthaberisch und streitsüchtig wie die Herren von Wolkenstein oder Freundsberg, gleichzeitig als Hochstiftsadeliger im Dienst des Brixner Bischofs auf Karriere bedacht, war Nützlichkeit für ihn ein Argument, das ihn veranlassen konnte, weitere schriftliche Ermahnungen anzunehmen: Er solle viel beten, denn „Swer petet, der raunt mit gote“ (wer betet, unterhält sich mit Gott), andächtig soll er die Messe hören, den Priester als Boten Gottes und Arzt der Seele anerkennen, er soll seine Tugenden pflegen und seine Laster meiden, sich um Lossprechung von seinen Sünden bemühen, geistlichen Frieden suchen, Christus nachfolgen, Gott lieben und Trost bei der Gottesmutter suchen. Nicht weniger beachtenswert ist das um 1500 in Gufidaun oder Brixen entstandene „Stundenbuch der Veronika von Neidegg“, verheiratete Welsperg und Thun.[32] Es enthält deutschsprachige Meditationstexte und Gebete, etwa ein als „Testament“ deklariertes, betont individuelles Glaubensbekenntnis, ferner ein „kosperlich gepet von vnser lieben frawen“ – wer immer das täglich andächtig spreche, dem werde von der schmerzenreichen Mutter des Erlösers und Trösterin aller Betrübten, gewährt, worum er bitte.
[30] Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck, FB 32040.
[31] Wielander 1959, 3–88, Zitate; 86, 3.
[32] Bibliothek des Priesterseminars Brixen, Cod. F/5 (149).
[1] Schreiner 1992b, 1–13.
[2] Schreiner 1992b, 13–26; 27–41.
[3] Machilek 1992, 157–189.
[5] Rubin 1992, 309–318.
[6] Hofmeister-Winter 2001, 347–350, fol. 131v–132v.
[7] Ein Fronleichnamsspiel steht in der „Neustifter-Innsbrucker Spielhandschrift“ des Augustiner-Chorherrenstifts Neustift (» A-Iu Cod. 960, fol. 51r–59r); vgl. Thurnher/Neuhauser 1975. Allerdings wurde diese aus Thüringen stammende Handschrift in Tirol nicht praktisch verwendet.
[8] Brückner 1992, 18.
[9] Hofmeister-Winter 2001, 317, fol. 115v.
[10] Hofmeister-Winter 2001, 319, fol. 117r. Diese wohl realistische Befürchtung hat inhaltliche Gemeinsamkeiten mit dem Salzburger Spottlied „Die Pinzgauer wollten wallfahrten gehn; sie täten gerne singen, sie konntens nit gar schön“ (um 1800 entstanden).
[11] Hofmeister-Winter 2001, 317, fol. 116r.
[12] Hofmeister-Winter 2001, 304–311, fol. 109r–112v.
[13] Hofmeister-Winter 2001, 309, fol. 111v/112r.
[14] Hofmeister-Winter 2001, S. 307, fol. 110v.
[16] Stürz 1978, 43–60.
[17] Ohler 1986, 282–298.
[18] Schwob 2007, 66–68.
[19] Schwob/Schwob 1999-2013, Nr. 233.
[20] Schwob 2009, 17–28.
[21] Schwob/Schwob 1999–2013, Nr. 163.
[22] Schwob/Schwob 1999–2013, Nr. 377.
[23] Hochenegg 1984, Listen, passim.
[24] Bestände im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, Südtiroler Landesarchiv Bozen, Diözesanarchiv Brixen.
[25] Schwob 1989, 291–326.
[26] Hochenegg 1984, 226–227.
[27] Pfarr- und Dekanatsarchiv Bruneck, Or. Perg. Urk. 1431 Oktober 2.
[28] Sinnacher 1830, 486–487.
[29] Angenendt 1997, 77–79.
[30] Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Innsbruck, FB 32040.
[31] Wielander 1959, 3–88, Zitate; 86, 3.
[32] Bibliothek des Priesterseminars Brixen, Cod. F/5 (149).
[33] Spicker 2007, 86–118.
[34] Andergassen 2011, 77–79.