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Sangspruch in zwei Liedersammlungen des frühen 15. Jahrhunderts

Horst Brunner

Trotz des Aufkommens von Reimreden und Spruchtönen war der Sangspruch nicht völlig vergessen, auch nicht in den österreichischen Ländern. Dies beweisen zwei Liederhandschriften: die Sterzinger Miszellaneen-Handschrift, zu Beginn des 15. Jahrhunderts entstanden im Umkreis von Brixen/Neustift und wohl von Oswald von Wolkenstein benutzt (Sterzing/Vipiteno, Stadtarchiv/Archivio comunale: » I-VIP o. Sign.); und das Liederbuch des Liebhard Eghenvelder, der Liederteil der sog. Schratschen Handschrift, entstanden 1431/34 in Hainburg an der Donau, Niederösterreich (Wien ÖNB: » A-Wn Cod. s.n. 3344).[16] Die Sterzinger Handschrift bietet eine bunte Vielfalt lateinischer und deutscher Texte in Vers und Prosa, teilweise mit Melodieaufzeichnungen. Unter den Liedern finden sich neben Liebes- und Neidhartliedern auch Lieder in Spruchtönen: in Stolles Alment, im Hofton Konrads von Würzburg, in Marners Langem Ton, in Boppes Hofton, im Barantton Peters von Sachs und in Suchensinns Ton – letzterer ein zeitgenössischer Autor.[17] Erstaunlicherweise ist die Mehrzahl der Texte (vier von sieben) in lateinischer Sprache abgefasst. Sangsprüche und – seit etwa der Mitte des 14. Jahrhunderts – mehrstrophige Spruchlieder (Bare) in lateinischer Sprache sind ein Phänomen der Gattungsgeschichte im 14. Jahrhundert; damals bedienten sich lateinisch gebildete Autoren für ihre Dichtungen gelegentlich deutscher Spruchtöne.[18]  In der Sterzinger Handschrift begegnen dabei sogar die Namen zweier Dichter: der eine, Magister Nikolaus Schweidnitz, Autor eines Marienliedes in Boppes Hofton (oder im formgleichen Langen Ton Heinrichs von Mügeln; RSM 1NikS/1)), war ein Wiener (dort bezeugt 1396), der in Prag studiert hatte, Verfasser rhetorischer Schriften;[19] der andere, Henricus Moralis, von dem eine vierstrophige Lastermahnung in Stolles Alment stammt (RSM 1HenrM/1/1), ist vielleicht identisch mit Heinrich Honover, der ebenfalls in Prag den Magistergrad erworben hatte, später Augustinerchorherr wurde und Anfang des 15. Jahrhunderts verstarb.[20] Verbunden mit dem (Peter von Sachs zu Unrecht zugeschriebenen) hochartifiziellen Barantton sind in der Sterzinger Handschrift die beiden Lieder Man siht leuber / teuber (RSM 1PeterS/3b) und Iam en trena /lena (RSM 1PeterS/4a), die sich später auch in der Kolmarer Liederhandschrift finden.[21] Ein anonymer lateinischer Dreierbar in Konrads von Würzburg Hofton (RSM 1KonrW/7/100) richtet sich an Fortuna, die Armut und Christus, eine echte Marnerstrophe in seinem Langen Ton (RSM 1Marn/7/19c) enthält einen lateinischen Katalog der Septem artes. Ein von Suchensinn stammender Dreierbar bietet eine Minnelehre (RSM 1Suchs/20)

Der Liederteil der Handschrift des Liebhard Eghenvelders (Bl. 100v-115r) enthält insgesamt 31 Lieder, 21 davon mit Melodie. [22] 12 Lieder sind Neidharte, 3 Tagelieder (darunter ein geistliches Tagelied des Mönchs von Salzburg), die übrigen 16 Lieder sind in Spruchtönen abgefasst. Es finden sich: aus dem 13. Jahrhundert der Schwarze  Ton des ‚Wartburgkriegs‘ und Reinmars von Brennenberg Hofton, aus der Zeit um 1300 Töne Frauenlobs (Grüner Ton, Kurzer Ton, die unechte Zugweise), Regenbogens (Grauer Ton, Briefweise), der Ton des Jungen Meißner, Mülichs von Prag Hofton oder Langer Ton, der Rohrton des Pfalz von Straßburg und die – am Rande des Spruchton- bzw. Meistersingerrepertoires stehenden – Tageweisen I und II Peters von Arberg, aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts Muskatbluts Hofton, außerdem ein sonst unbekannter anonymer Ton. Die Themen sind unterschiedlich geistlich und weltlich: Verkündigung an Maria, Anrufung Marias, ein Weihnachtslied, ein geistliches Wächterlied, Schuld, die nicht abgetragen werden kann; Disticha Catonis, Liebesthematik, Frauenerziehung, Frauenpreis, Schulkünste, drei Fabeln (im anonymen Ton). Die meisten Lieder finden sich auch in anderen Handschriften des 15. Jahrhunderts, vier sind unikal überliefert (RSM 1Mülich/3/5, 1Regb/2/5, 1Regb/1/562, das Lied im anonymen Ton 1ZX/510/1). Besonders hervorzuheben sind 19 Strophen mit Liebesthematik in Frauenlobs Kurzem Ton (hier als Baratweise bezeichnet; RSM 1Frau/100/500a), da dieser Ton sonst nur sehr selten bezeugt ist und ins Tönerepertoire der Meistersinger keinen Eingang gefunden hat. Die beiden Bare in den Muskatbluttönen (RSM 1Musk/1/7b und 59b) – der Tugendbaum und Frauenerziehung – sind echt.[23]

 

[16] Vgl das Faksimile; Thurnher/Zimmermann 1979; ferner Zimmermann 1980; Zimmermann 1995; Lomnitzer 1971.

[18] Vgl. dazu zusammenfassend Callsen 2019.

[20] Stohlmann 1983, Sp. 136.

[21] Texte und Melodien sind ausführlich behandelt in » B. Traditionsbildungen (Reinhard Strohm).

[22] Die Spruchmelodien in der Sterzinger und in der Schratschen Handschrift sind in SPS (Brunner/Hartmann 2010) berücksichtigt. Vgl. zur Handschrift Eghenvelders auch » Kap. Eine studentische Neidhartsammlung aus Wien (Marc Lewon) mit Musikbeispielen.

[23] Haustein/Willms 2021, Nr. 7 und 59.