Sie sind hier

Eine süddeutsche Humanistenkorrespondenz

Markus Grassl

Am 8. Juni 1506 sandte Lorenz Beheim, ein humanistischer Gelehrter und Geistlicher, der nach einer langen Zeit im päpstlichen Dienst ab 1505 ein Kanonikat an St. Stefan in Bamberg bekleidete, eine Reihe von Musikstücken an den bekannten Humanisten und Nürnberger Patrizier Willibald Pirckheimer, der seinerseits viele Jahre in Italien zu Studienzwecken verbracht hatte, anschließend 1496 Mitglied des Stadtrats seiner Heimatstadt wurde und seit 1500 dem Kreis der Berater und Vertrauten Maximilians I. angehörte.[33]

Die Korrespondenz der beiden Freunde gewährt einen Einblick in den intensiven Repertoireaustausch, der um 1500 zwischen den europäischen Regionen, zwischen Hof und Stadt, aber auch zwischen Berufs- und Amateurmusikern wie Pirckheimer und Beheim stattfand.

Lorenz Beheims Schreiben an Willibald Pirckheimer. 1506. Junii 8. Babenbergae

Salve. Hodie lectis litteris tuis statim perquisivi libellos meos musicae et reperi, et ecce tibi mitto in uno quinternione II bassadanzas de Johann Maria et I zelor [sic] amoris Boruni. La prima bassa è una cosa troppo forte, perchè e doppia, et la 2a è simpia. In alio autem quinternione, cuius prima suprascriptio est “Alla bataglia“, è una bona cosa. Reperies caecus et ellas. Deinde la bassadanza de Augustino Trombone, qui est in curia regis Romani, et est satis bona e ligiera. Deinde est alia simplex bassa, quae potest pulsari in organis. Ex his omnibus colligas tibi unam, quae placeat. Et remitte mihi hos quinterniones omnino et expedias. Ego autem pulsavi aliam bassam et tibi etiam eam misissem, nisi tempus fuisset mihi nimis breve ad copiandum; mittam tamen.[34]

(Bamberg, 8. 6. 1506

Sei mir gegrüßt. Nachdem ich heute deinen Brief gelesen hatte, habe ich gleich meine Musikbücher gesucht und gefunden. Ich schicke dir hier in einem Heft aus fünf Blättern zwei Bassedanze von Johann Maria und ein „zelor amoris“ [Je loe amours] des Boruni. Die erste Bassadanza ist eine recht schwere Sache, weil sie doppelt ist, die zweite ist einfach.[35] In einem zweiten Heft aus fünf Blättern [befindet sich] ein erstes Stück, „Alla bataglia“ betitelt, das schön ist. Du wirst [darin auch] „caecus“ [non iudicat de coloribus] und „ellas“ [Hélas …]  finden; dann eine Bassadanza von Augustin dem Posauner, der am Hof des römischen Königs [tätig] ist, und diese ist recht gut und einfach; dann eine andere einfache Bassadanza, die man auf der Orgel spielen kann. Suche dir daraus ein Stück aus, das dir gefällt. Und sende mir die Hefte zur Gänze zurück und beeile Dich. Ich habe auch eine andere Bassadanza gespielt, die ich dir ebenfalls geschickt hätte, wenn mir nicht zu wenig Zeit zum Kopieren geblieben wäre. Ich werde sie aber noch senden.)

Drei Wochen später löste Beheim sein Versprechen ein und übersandte weitere Bassedanze. Aus dem Hinweis, dass diese „ad XIII cordas“ (für 13 Saiten) angelegt, aber leicht „ad XI cordas“ (für 11 Saiten) zu adaptieren seien,[36] ergibt sich, dass Beheims Sendungen aus Lautenstücken bzw. Einrichtungen von Stücken für (sieben- respektive sechschörige) Laute bestanden.

Erhalten sind nur die Briefe Beheims, nicht hingegen die beiliegenden Notenhefte. Allerdings ist die Mehrzahl der genannten Werke dank einer zum Teil reichen Überlieferung in Musikhandschriften und -drucken bekannt: „Zelor amoris“ ist zweifellos die berühmte und auch in instrumentalen Einrichtungen weit verbreitete Chanson Je loe amours von Gilles Binchois,[37] „caecus“ die ebenfalls häufig überlieferte ,Instrumentalfantasie‘ Cecus non iudicat de coloribus von Alexander Agricola, „A la battaglia“ wohl der gleichnamige, in Florenz entstandene Liedsatz Heinrich Isaacs (» Hörbsp.♫ A la battaglia) und „Ellas“ eine der zahlreichen franko-flämischen Chansons, deren Text mit „Hélas“ beginnt, mit größter Wahrscheinlichkeit das in vielen Quellen erhaltene und oft bearbeitete Hélas, que pourra von Firminus Caron.

Die von Beheim übersandten Bassedanze kennen wir nicht. Sofern sie nicht verloren sind, könnten sie sich zwar unter den vielen Tänze befinden, die nicht zuletzt in Lautenmusiksammlungen des 16. Jahrhunderts anonym enthalten sind, doch ist eine genaue Zuordnung hier unmöglich. Immerhin lassen sich die ,Urheber‘ der Bassedanze identifizieren: „Augustino Trombone“, also Schubinger, und „Johann Maria“, ein Lautenist, der auch als „Johannes Maria Dominici“, „Giovanni Maria Hebreo“ etc. bekannt und zwischen 1492 und 1526 in Florenz, Rom und Urbino belegt ist,[38] sowie mit Ulrich und Augustin Schubinger in Kontakt stand.[39]

Grantley McDonald hat die Möglichkeit erwogen, dass Beheim die Stücke Agricolas, Schubingers und Isaacs von Eberhardt Senft bezogen hat, einem Angehörigen der maximilianeischen Kapelle und (wie Beheim) Kleriker an St. Jakob in Bamberg.[40] Auffällig ist freilich, dass Beheim Schubinger als „Augustino Trombone“, also mit dessen in Italien gebräuchlichem Namen anspricht (und auch an anderer Stelle vom Lateinischen ins Italienische verfällt). Vor allem aber waren alle Stücke entweder in Italien verbreitet (dies gilt für die französischen Chansons ebenso wie für Cecus) und/oder stammen von dort tätigen Komponisten oder sind überhaupt dort entstanden. Ebenso gut vorstellbar ist daher, dass Beheim, der erst wenige Jahre zuvor, 1503, aus Rom in seine deutsche Heimat zurückgekehrt war, die Sammlung selbst aus Italien mitgebracht hatte. Davon unabhängig kann aber Beheims Sendung mit ihrer Mischung von Chansons, einer Instrumentalfantasie und Tänzen als durchaus typisch für das Repertoire angesehen werden, wie es auch von einem professionellen Lautenisten wie Schubinger um 1500 gepflegt wurde.

Vor dem Hintergrund von Beheims Erwähnung der „bassadanza de Augustino Trombone“ wird Schubinger in der Literatur manchmal auch als „Komponist“ apostrophiert. Allerdings wäre es eine grobe Verkürzung, imaginierte man sich den „Komponisten“ Schubinger gemäß einer landläufigen modernen Vorstellung als jemanden, der ein Stück Musik gleichsam am Schreibtisch konzipierte und notierte, ehe dieses erst in einem zweiten Schritt zur Aufführung gelangte. Mit Blick auf eine Instrumentalmusikkultur, die wie geschildert in vielfältigen Übergängen und Überschneidungen zwischen Schriftlosigkeit und Schriftlichkeit, zwischen dem Rückgriff auf Präexistentes und dem flexiblen Umgang mit vorgegebenem Material angesiedelt war, sind auch andere Konstellationen vorstellbar und sogar wahrscheinlicher. So könnte der Ausgangspunkt ein von Schubinger ursprünglich aus dem Stegreif gespielter Satz gewesen sein, der später, gar nicht notwendigerweise von ihm selbst, aufgezeichnet wurde. Möglich wäre zudem, dass sich Schubinger auf eine Vorlage (von wem und in welcher Gestalt auch immer) stützte, es aber seine Version war, die in der Folge Verbreitung fand und schließlich unter seinem Namen zirkulierte.

[34] Edition in: Willibald Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 1, hrsg. von Emil Reicke (Veröffentlichungen der Kommission zur Erforschung der Geschichte der Reformation und Gegenreformation. Humanistenbriefe 4), München 1940, S. 371.

[35] Dies könnte sich auf die Unterscheidung zwischen zwei- und einteiligen bassedanze beziehen (in der Terminologie des zeitgenössischen französischen Tanzschrifttums basses danses mineurs und majeurs).

[36] Brief vom 29. Juni 1506, ediert in: Willibald Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 1, hrsg. von Emil Reicke (Veröffentlichungen der Kommission zur Erforschung der Geschichte der Reformation und Gegenreformation. Humanistenbriefe 4), München 1940, S. 380. Siehe zu dieser Korrespondenz auch Meyer 1981, 62–64.

[37] Zu „Boruni“, dem Bearbeiter, d. h. wohl Intavolator von Binchois’ Komposition, lässt sich indes nichts Genaueres feststellen. Vielleicht handelt es sich um einen älteren Verwandten des ca. 1490 geborenen, um die Mitte des 16. Jahrhunderts renommierten Mailänder Lautenisten Pietro Paolo Borrono.

[38] Slim 1971, 563–568.

[39] Dies geht aus einer Bemerkung im Schreiben Ulrichs an Lorenzo de’ Medici hervor (» G. Kap. Schubinger, Lorenzo de’ Medici und Isaac), wonach Ulrich in Ferrara vergeblich auf seinen Bruder und „Zoani Maria che suona el liuto“ gewartet habe.

[40] McDonald 2019, 13–14.