Schlaglicht: In Gottes namen faren wir: Mehrstimmige Bearbeitungen
Unter den schriftlichen Zeugnissen musikalischer Volksfrömmigkeit des Spätmittelalters sind die direkten Belege (z. B. Aufzeichnungen der Lieder in Gesangbüchern) in der Minderzahl; häufiger sind Zitate und Bearbeitungen von Liedern in Quellen mit anderer Funktion. Von den bedeutendsten Komponisten der maximilianeischen Epoche – Paul Hofhaimer (» I. Hofhaimer), Henricus Isaac (» G. Henricus Isaac), Ludwig Senfl (» G. Ludwig Senfl) – hat jeder mindestens eine mehrstimmige Vertonung der Leise (In) Gottes namen faren wir hinterlassen.[1] Eine Aufführung von Hofhaimers vierstimmiger Fassung, in ihrer kunstvoll kontrapunktischen Art, ist am ehesten in einem privaten – höfischen oder bürgerlichen – Rahmen vorstellbar. Die Liedmelodie erklingt in den beiden Mittelstimmen im Kanon:
» Hörbsp. ♫ Gottes namen faren wir, Hofhaimer
Text: Gottes namen faren wir, seiner genaden geren [begehren] wir, das helf uns die gottes kraft und das heilige grab, do Gott selber inne lag. Kyrieleis.
Das helf uns der heilig geist, und die wa(h)r gottes stimm, dass wir frölich farn von hin. Kyrieleison.[2]
Nicht zufällig ist diese Vertonung des zweistrophigen Liedes in einer Sammlung meist weltlicher Lieder im Stimmbuchformat überliefert, die privatem Musizieren im Umkreis des Hofes diente (» A-Wn Mus.Hs.18810). Im Tenor-Stimmbuch lautet die Überschrift des Stücks: „Pauls Hofhaymer: unwirdiger Ritter“ (» Abb. Hofhaimer, Gottes namen). Gleich anschließend ist in demselben Stimmbuch Hofhaimers Komposition Carmen in re mit „Pauls Hofhaymer unschuldiger Ritter“ überschrieben.
Lässt sich nur vermuten, dass die Kanonführung der bekannten Melodie in diesem Stück eine Anspielung auf gleichzeitig und durcheinander singende Wallfahrer sein soll, so ist in einer anderen Vertonung diese verbildlichende Intention klar erkennbar: in der anonymen achtstimmigen Motette Ave mundi spes Maria/Gottes namen faren wir (» Hörbsp. ♫ Ave mundi spes Maria/Gottes namen faren wir). Diese Motette wurde ca. 1466 im Codex » I-TRbc 89, fol. 233v–234r, notiert, und vor ca. 1472 im Chorbuch des Innsbrucker Magisters Nicolaus Leopold (» D-Mbs Mus. ms. 3154, Nr. 25). Das herkömmliche Pilgerlied, die Leise Gottes namen faren wir, ist hier mit zwei Mariengebeten (Sequenz-Fragmenten) verbunden. Der Text ist zugleich eine Kombination von Sprechhandlungen,[3] denn „wir fahren“, „wir bitten“ ist eine andere Art von Aussage als die Anrufung Mariens selbst („Ave Maria“) – noch abgesehen von der Differenz der himmlischen Adressaten. Der alle sechs tieferen Stimmen durchwandernde cantus firmus der Leise scheint das zu beschreiben, was die zwei hohen Stimmen tun. Achtstimmigkeit, kanonische Imitation und Mehrtextigkeit dienen einer Art realistischer Sprecheridentifizierung, denn es gab in einer damaligen wandernden Pilgertruppe vielleicht wirklich acht oder mehr Personen oder Gruppen, die verschiedene Melodien bzw. die dieselbe Melodie ungleichzeitig sangen. Der unbekannte Komponist, an den Werken des berühmten französischen Meisters Antoine Busnoys geschult, gibt diesem Potpourri allerdings eine kontrapunktische Bindung, die von den Pilgern unmöglich hätte improvisiert werden können: Die kunstvolle Komposition ist ein Bild, eine Allegorie des tatsächlichen Ereignisses.
[1] Niederschriften beginnen manchmal mit, manchmal ohne „In“.
[2] Die Textvariante vom „heiligen Grab“ deutet natürlich auf Jerusalempilgerschaft.
[3] Vgl. Strohm 2011.
Empfohlene Zitierweise:
Reinhard Strohm: “In Gottes namen faren wir: Mehrstimmige Bearbeitungen”, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/kapitel/schlaglicht-gottes-namen-faren-wir-mehrstimmige-bearbeitungen> (2016).