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Die Tiroler Spieltradition

Andrea Grafetstätter

Um 1500 bringt die wirtschaftliche Blüte der Bren­ner­städte eine bürger­liche Spiel­­kul­tur hervor, die vor allem mit der Person des Malers und Spiel­leiters Vigil Raber (gest. 1552) als Schreiber zahlreicher Spiel­tex­te greifbar wird. Die Spieltradition umfasst dabei ungewöhnlicherweise geistliche und weltliche Spiele gleichermaßen, die im „Sterzinger Spielarchiv“ überliefert sind (» H. Sterzinger Spielarchiv). Zu den geistlichen Spielen in dieser Sammlung gehören z. B. die Sterzinger Passionsspiele von 1486 und 1496/1503 und die Bozener Passionsspiele von 1495 und 1514. Hier sind bisweilen in den Manuskripten mit roter Tinte die Namen einzelner Schauspieler neben der Rollen­be­zeichnung eingetragen; auch eine Benachrich­tigung für eine Kostümprobe im Jahre 1514 in Sterzing ist bekannt. Man spielte die geistlichen Spiele in der Kirche oder auf einem freien Platz, den die Zuschauer von allen Seiten um­stan­den oder auf den sie von den umliegenden Häusern blickten,[1] und zwar auf einer Simultanbühne. Diese Bühnenform bedeutet, dass alle Schauplätze des Spiels simultan auf der Bühne durch sogenannte mansionen oder stant einsehbar sind. Bei diesen durch Dekoration verdeutlichten mansionen hat man sich durch vier Pfosten gestützte Dächer vorzustellen,[2] die von allen Seiten Einblick gewähren. Ortswechsel werden durch Aufstehen der Schauspieler in einem stant oder durch den Zug von Schauspielern zu einem bestimmten stant angezeigt. Das bedingt, dass sich auf der Bühne mehrere Handlungen simultan vollziehen können.[3] Man kann also beim Publikum eine große Flexibilität im Verfolgen des Gesamtgeschehens an­neh­men.[4] Frauenrollen wurden in geistlichen wie auch in weltlichen Spielen üblicherweise von Männern repräsentiert; dies umfasst auch die Ver­hand­lung weib­li­cher Stereotype. Im Brixener Passionsspiel etwa erwägt der Apos­tel Thomas als Grund, Gott habe sich zuerst Frauen gezeigt und den Auftrag gegeben, sei­ne Auferstehung zu verkünden, da Frauen ohnehin nicht schweigen könnten (Wackernell 1897, 424, 4245–4250).

Im Jahre 1514 wurde in Bozen ein siebentägiges Passionsspiel aufgeführt. Hierzu liegt ein Bühnenplan Rabers vor, den bereits Reinhold Nordsieck in die Bozner Stadtpfarrkirche hinein­pro­ji­ziert.[5]

 

 

Die Weite der Bühnenanlage wird im Bozner Abendmahlsspiel vom Precursor (Spielansager) einge­for­dert: „Precursor dicit Rigmum: […] Darumb sey in andacht ein yeder man/ Vnd thue das in gottes nam/ Vnd eng vns nyempt zw kainer czeitt,/ Darumb stet vmb yn dy weytt“ (Lipphardt/Roloff Bd. 1, 375–376, 28–31). (Darum möge jeder andächtig sein und das im Namen Gottes tun, und uns [=die Schauspieler] niemand zu irgendeinem Zeitpunkt einengen, deshalb umsteht uns in weitem Kreis.)[6]

[1] Vgl. Linke 1987, 150.

[2] Vgl. Bergmann 1984, 71.

[3] Vgl. Bergmann 1989, 424.

[4] Vgl. Wildenberg-de Kroon 1988, 151.

[5] Vgl. Nordsieck 1945, 117.

[6] Alle Übersetzungen des Essays stammen von Reinhard Strohm.