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Musik und Tanz in der Neidhartspieltradition

Andrea Grafetstätter

Überblick

Die Neid­hart­spie­le sind als „a special type of co­medy“[31] eine besondere Form der weltlichen Spiele. Erhalten sind fünf Neid­­hart­­spiele des aus­ge­hen­den Mit­tel­al­ters – das St. Pau­ler Neid­hartspiel, das Gro­­ße Neid­hartspiel, das Sterzinger Neid­hart­­spiel, das Sterzinger Szenar und das Kleine Neid­­­hartspiel. Mit dem Neid­hartspiel von Hans Sachs zeigt sich die konti­nu­ier­liche Rezeption des Stof­fes, die mit der Bear­bei­tung als Ballett (Salvatore Viganò, Das wie­der­ge­fundene Veil­chen, Auf­füh­rung 1795 im Wiener Kärntnertor-Theater) bis in die Neuzeit reicht.

 

St. Pauler Neidhartspiel, Großes Neidhartspiel

Das wohl in Schwäbisch Gmünd auf­ge­zeich­nete, nach einem auf 1367 da­­­tierten la­tei­ni­schen Brief eingetragene St. Pauler Neidhartspiel,[32] eines der ältesten über­lie­ferten welt­­lichen Spiele überhaupt, wurde 1895 im Bene­dik­tinerstift St. Paul (Lavanttal/Kärn­ten) entdeckt (A-SPL Cod. 261/4, Papier­hs., 22,5 x 15 cm; 272 Bl.). Es weist nur 58 ge­spro­­­che­ne Ver­se und drei Spre­cher­­­­rollen (Ein­schrei­er, Herzogin und Neid­hart) auf.

Das Gro­­ße Neid­hartspiel mit 2624 Zeilen (2268 Sprechverse) ist mit sechs anderen Spie­len in einer Sammlung, wohl aus Tirol, aus den ersten Deka­den des 15. Jh. überliefert.[33] Viel­leicht wurde das Spiel mit Unterbrechung bzw. an zwei Tagen auf­geführt, da der Einschreier (Precursor) einen zweiteiligen Aufbau nahe legt.[34] 103 Rol­len wer­den namentlich er­­wähnt (da­von 69 Spre­cher­rollen).[35] Mu­­sik spielt eine do­­mi­nierende Rolle.

 

Singende Teufel, invalide Bauern

Bei der Teu­felsszene des Gro­­ßen Neid­hartspiels ver­mu­tet Konrad Gusinde, dass der Lob­ge­sang Luzifers – „Da singn die Teuffl all mit einander dz gesangk/ Luci­per vnserem heren/ Süllen wir alle eren/ Poldrius paldrius poldrianus“ (Margetts 1982, 69, 1632–1635) – „von einem gro­­tesken Teufelstanze“ be­­gleitet ge­wesen sei.[36] Diese Teufel müssen durch Kos­tü­mierung und Requisiten identifizier­bar gewe­sen sein, auch in Abgrenzung zu den Bau­ern. Teufel traten in Spielen oft in schwarzer, tier­haf­­ter Gestalt mit langen Schnei­de­zäh­nen, unförmigen Bäuchen, auf Krücken gestützt, flink und wen­dig, schrei­end, fluchend und mit expressiver Mimik auf,[37] sie trugen bisweilen Mas­ken, Klauen an Hän­den und Füßen so­wie einen Schwanz und Fell. Als Re­qui­si­ten dienten Stan­­gen, Keulen, Ha­ken, Ketten, Stricken, Kessel etc.[38] Die Aufführung erforderte von den Interpreten der Teufel stimmgewaltige Darsteller, die den gefährlichen Charakter dieser Höllenwesen durch schreckliches Geschrei verdeutlichen sollten.[39]

Dabei ist die Verbindung von Musik und Teufel auffällig, denn in Pfarrkirchers Passion rühmen sich die Teufel, dass sie „zw wegen müg pringen/ Manige hoffart vnd Rppigkayt“ (viele Arten von Hoffahrt und Vergnügung hervorbringen), und dazu zählt freilich „Singen, springen vnd hoffieren“ (Lipphardt/Roloff, Bd. 2, 181–182, 3581a–3592). Der „Tercius Diabulus dicit Rossenkrantz“ lobt sich selbst: „Ich hays fürst Rossenkrancz./ Ich haysz dy lewt springen an dem tancz“ (Lipphardt/Roloff, Bd. 2, 182, 3598a–3600).

Die weiteren zahl­rei­chen hö­fi­schen und „dör­per­lichen“ (unhöfischen, bäuerlichen), mit Musik unterlegten Tänze im Großen Neidhartspiel, die einen er­höh­­ten Raum­­be­darf konturieren und möglicher­wei­se das Spiel gliederten, führen zu Gu­sin­­des Wertung, das Spiel sei „ein voll­­stän­diges Tanz­spiel.“[40] Da die Bauern ab einem be­­­stimm­­ten Zeit­­punkt im Spiel als Inva­li­den charakterisiert sind, muss eine gewisse Un­­be­hol­­fen­heit der Bewe­gun­­gen (auch beim Tanz!) an­ge­­nom­men wer­­den, die als Feh­ler des Körpers Komik erzeugen konnte.  

 

Sterzinger Neidhartspiel, Kleines Neidhartspiel

Die Neidhartspiele selbst, sowie die ikonographi­schen Re­zeptionsdokumente, deuten an, dass Spiele um das Veilchenthema für Tirol typisch waren und sich im gesamten südlichen deutschen Sprachraum verbreiteten.[41] Die Neidharttradition im Tiroler Gebiet wird weiter dokumentiert durch zwei auf etwa 1511 datierte Sterzinger Spiel­do­ku­mente (ver­mut­­­lich aus Bozen): ein Spiel­text (Sterzinger Neidhartspiel) und ein Dirigierheft (Sterzinger Szenar).[42] Das Szenar (28 Bl.) wird in einem Pa­­pier-Heft überliefert (22,5 x 16,2 cm); es stimmt inhaltlich weit­­gehend mit dem Sterzinger Neidhartspiel über­ein, die Regie­an­mer­kungen sind im Sze­­nar al­ler­dings erwartungsgemäß ausführ­licher. Benö­tigt wer­den etwa 50–60 Schau­­spieler.[43] Die Hand­schrift des Sterzinger Neidhartspiels (15 Kanz­lei­pa­pierbo­gen, mittig zu einem Heft gefügt, etwa 27 x 19 cm) mit 1064 Zei­len (796 ge­spro­che­ne Ver­se[44]) zeigt eine funk­­tio­nale Text­for­ma­tie­rung durch den Schrei­ber, der das Sterzinger Szenar und das Sterzinger Neidhartspiel ein­getragen hat.[45] Die Zusam­men­­hänge zwischen Sze­nar und Spiel sind um­­stritten; Anton Dörrer ver­mu­tet: „Das Sze­nar stellte […] ein wesentlich neu aus­­­ge­stal­te­tes Regie­buch gegenüber dem Spiel­text dar“[46], „vom oder für den damaligen Spielleiter geschrie­ben […], um den Spielbrauch mög­lichst thea­tralisch-ein­drucksvoll auszu­ge­­stalten.“[47] Max Siller hin­ge­gen geht von der Kongru­enz der Spiele aus; Ab­wei­chun­gen erklärt er als noch im Rahmen mittel­alter­licher Abschreibegepflo­gen­hei­ten und mit An­for­de­run­gen der Improvisations­kunst.[48]

Die vielleicht am Stadt­rand lo­ka­­li­sierte Spiel­flä­che des Spiels mit 40 sprechenden und etwa 20 stummen Rol­­len war mög­li­cher­­weise „an outdoor jousting field surrounded by bar­riers.“[49] Es begann mit einer hierar­chisch ge­ord­ne­ten, mu­si­ka­­li­schen Pro­zes­sion der Schau­­spieler zur Spielbühne; auch der Gang zum Veil­chen wurde als Musik­pa­ra­de um das Spielfeld herum inszeniert. Wäh­rend zwei Herol­de das Spiel ankün­di­gten, trat die Truppe in den Ring, um auf Stühlen und Bänken Platz zu nehmen. Für die Musiker war dabei ein eigener Stand vorgesehen. Die Ein­schrei­er des Sterzinger Szenars und des Sterzinger Neidhartspiels baten um wohl­wol­len­­de Auf­nah­me des Stücks und bagatellisierten vorab Fehl­­leis­tun­gen der Schau­spieler, „Wann Sy künnent nit alle lesn/ Jr sint Ettliche nye zG SchGl ge­we­sen“ (Margetts 1982, 124, 34–35) (Denn sie können nicht alle lesen,/ es sind einige nie zur Schule gegangen). Auch in Tiroler geistlichen Spielen gibt es Auf­for­­de­run­gen, qua­li­ta­tiv min­der­wertige Performanz von Schau­spie­lern zu ex­kul­pie­ren, so in Pfarrkirchers Passion:

Dar vmb seyt petrüebt heint in got
Vnd treybt dar aus nicht schimpf noch spot,
Als man manign groben menschen vindt,
Als paldt er enpfint,
Das ainer in einem reim misredt
So treibt er dar aus sein gespöt
Vnd lacht des spils gar,
Das man nicht thuen solt fürwar,
Wan es doch zw eren Ihesu Crist
Gänczlich angefangen ist
(Lipphardt/Roloff, Bd. 2, 47, 749–758).

(Deshalb trauert heute in Gott,
Und zieht daraus weder Schimpf noch Spott,
wie man manchen groben Menschen findet,
der, wenn er bemerkt,
dass einer in einem Vers sich verspricht,
sich davon zum Spott berechtigt fühlt
und das Spiel sogar auslacht,
was man wahrlich nicht tun sollte,
da es doch zur Ehre Jesu Christi
ganz und gar bestimmt ist.)

Ermahnungen in Spielen, bei Versehen der Schauspieler nicht zu lachen, können entweder mit Linke als „ein Reflex des Publikumsverhaltens“[50] oder mit Dorothea Freise als vorgreifende Präventivmaßnahme erklärt werden.[51]

Das am Ende des 15. J­ahrhunderts entstandene Kleine Neidhartspiel wurde wohl als ursprüng­li­ches Markt­­spiel (Spiel, das auf dem Marktplatz im Freien aufgeführt wurde)  in ein fastnächt­li­ches Ein­kehr­spiel (Spiel, das in Privathäusern oder Gaststuben aufgeführt wurde) transferiert.[52] Es ist, zusammen mit anderen Nürnberger Fastnachtspielen, in der Wolfen­bütteler Sam­­­mel­­hand­schrift G (» Wolfenbüttel, Herzog August Bibl. (D-W) Cod. 18.12 Aug. 4°) tradiert. Das Kleine Neidhartspiel hat nur 198 ge­spro­chene Ver­­­se (insge­samt 236 Zeilen), allerdings über 20 Sprecher­rollen. Es weist nur spartanische Regiean­mer­kun­gen auf. Die Tän­ze und gerade der Schlusstanz im Kleinen Neidhartspiel weisen auf das Fastnachts­brauch­tum voraus.

[31] Simon 1969, 5.

[32] „Das St. Pauler (schwäbische) Neidhartspiel ist […] nach dem 10. Februar 1367 aufgezeichnet wor­den. Ob die Ab­schrift zur Ausstellungszeit des Originals, kurz danach (also noch 1367) oder einige Zeit später (um 1370) ge­macht wurde, muss offen bleiben.“ (Simon 2003, 47)

[33] Vgl. Simon 1969, 6.

[34] Wolfgang Spiewok veranschlagt als zusätzliches Argument, dass die körperlichen Verausgabungen durch Tanz und Prügeleien eine notwendige Erholungspause der Darsteller suggerieren (Spiewok 1997, 13), was aber m. E. nicht zwingend ist, da man über Art und Dauer der jeweiligen Szenen kaum Aussagen treffen kann.

[35] Vgl. Margetts 1982, 284.

[36] Vgl. Gusinde 1899, 107.

[37] Vgl. Schuldes 1974, 99–100.

[38] Vgl. Schuldes 1974, 128–129 (mit Beispielen), 130–132.

[39] Vgl. Spiewok 1988, 189.

[40] Gusinde 1899, 166. „Es fin­det sich keine Szene, die nicht mit einem Tanz ein­ge­­leitet (!) bzw. mit einer Massen­prü­gelei be­­en­det wird.“ (Ten Venne 1989, 145).

[41] Vgl. Marelli 1999, 45  (“una materia tipicamente tirolese […], che si diffuse in tutte le regioni meridionali di lingua tedesca“).

[42] Diese „[z]um Gebrauch des Spielleiters angefertigte und damit bestimmten spieltechnischen Erfordernissen un­­ter­worfene Dirigierrollen […] erlauben einerseits eine relativ zu­verlässige Rekonstruktion des Ins­ze­nie­rungs­hergangs [….]; ande­rer­seits geben sie Aufschluß über die Arbeits­weise mittelalterlicher Regisseure, die Proben und Aufführungen anscheinend in der Regel anhand eines solchen Hilfsmittels leiteten“ (Neumann 1979, 164).

[43] Vgl. Margetts 1982, 303.

[44] Zeilenangabe nach Margetts 1982, 309; zur Problematik von Margetts’ Zählung, der die Zeilen nach der Handschrift umbricht und zählt (mit entsprechend verfälschendem Resultat) siehe Siller 1985, 397–398.

[45] „Durch dreimaliges Längsfalten der Blätter schuf er zunächst drei die Schrifträume markierende Vertikal­li­nien. Der dritte Längsknick bildet nur auf den Versoseiten, wo er als erster erscheint, eine Mar­kier­linie […]. Links vor dem ersten Knick (am Knick im Szenar) trägt er in rot die Sprecherbezeich­nun­gen ein, im Szenar dazu Kurzfassungen von fünf Regieanweisungen […]. An der ersten Falte beginnen mit Versalien die Sprechverse, die sich über den Rest der Seite erstrecken. […] Die Regieanweisungen (rechte Blatthälfte) beginnen in beiden Hef­ten am Mittelknick.“ (Simon 2003, 153–154)

[46] Dörrer 1950, 376.

[47] Dörrer 1950, 378.

[48] Vgl. Siller 1985, 400–402.

[49] Simon 1969, 10.

[50] Linke 2004, 83.

[51] Vgl. Freise 2002,  471–472.

[52] Vgl. Simon 2003, 136.