Beispiele für geistliche Lieder
Bei dem in fünf Handschriften überlieferten Gesang Von anegeng der sunne klar (G 21) handelt es sich, wie die Überschrift „A solis orto (des Munichs)“ in D zeigt, um eine wörtliche Übertragung des Hymnus zur Laudes (Morgengebet) an Weihnachten. Der lateinische Text wird dem Sedulius (1. Hälfte des 5. Jahrhunderts) zugeschrieben. Die deutsche Übertragung ist bereits in der Sterzinger Miszellaneenhandschrift enthalten, die textliche Überlieferung ist aber variantenreich.[36]
Die Übersetzung (hier die erste Strophe) lehnt sich eng, aber nicht gezwungen an die lateinische Vorlage an. Zum Vergleich die wörtliche lateinische Übersetzung: „Vom Ausgang des Sonnenaufganges bis an die Grenze der Erde singen wir Christus, dem Fürsten, geboren von der Jungfrau Maria.“ Der Mönch übernahm auch das antike Metrum dieses Hymnus. Er steht im sogenannten „jambischen Dimeter“, der durch die viermalige Abfolge von × — ◡ — × — ◡ — pro Zeile und vier Zeilen pro Strophe gekennzeichnet ist. — steht dabei für eine lange Silbe, ◡ für eine kurze Silbe und × für eine Syllaba anceps, die lang oder kurz sein kann. Seit dem 4. Jahrhundert kam es allerdings zu einem Wechsel von quantitierenden zu akzentuierenden Silben. Länge und Akzent einer Silbe fallen seither in der Regel zusammen, so auch in der deutschen Sprache. Daher ersetzte auch der Mönch die Längen und Kürzen des Jambischen Dimeters durch betonte und unbetonte Silben. Da alle Strophen gleich gebaut sind, könnte dieser Hymnus auch im Gottesdienst eingesetzt worden sein, am ehesten in einem Nonnenkloster.
Das Lied Grüest seist, heiliger tag (G 31) ist nur in A auf fol. 139v überliefert. Es trägt die Überschrift „Salve festa dies ze Ostern“. Im Register auf fol. 3r heißt es: „Zw Österleicher czeit das frëwden gesangk Salve festa dies daz wirt gesungen all suntag so man vmb dy kirchen mit der proces get“. Es handelt sich also um eine Übertragung des Prozessionshymnus des Venantius Fortunatus († ca. 600) zur Prozession vor der Messe in der Osterzeit. Der Hymnus besteht aus einer Refrainstrophe und vier weiteren Strophen. Auch hier ist der Text eine fast wörtliche Übertragung des lateinischen Textes, aber mit dem Unterschied, dass der Mönch das ursprüngliche Metrum, ein elegisches Distichon, zu einem Paarreim verändert, das melodische Modell jedoch gleich belassen hat. In der mittelalterlichen Liturgie war es üblich, dass Refrainstrophen nicht immer als Ganzes wiederholt wurden, sondern dass jede zweite Wiederholung nur aus der zweiten Hälfte des Refrains bestand. Daher wird nach der Strophe „Ecce renascentis“ mit „Qua deus infernum“ (der zweiten Hälfte des Refrains „Salve festa“) fortgesetzt. Nach der Handschrift A ist hingegen der Refrain „Grüest seist“ bei vier der fünf Strophen vollständig zu wiederholen, nur nach der dritten Strophe, also genau in der Mitte der Dichtung, wird nur der zweite Teil ab „Als got dy seynen“ gesungen.
Das Weihnachtslied Maria, keusche muter zart (G 10) ist ein Beispiel für einen frei komponierten Gesang. Der Ton dieses Liedes heißt der „Lange Ton“. Auf seine Melodie sind auch die Texte der Lieder G 33 (Pfingstlied Kum, senfter trost heiliger geist) und G 37 (Got, in drivaltikait ainvalt) gedichtet.
Die Form ist eine interessante Variante der Kanzonenstrophe mit doppeltem Stollenpaar und einfachem Abgesang, B und C sind dabei metrisch identisch, die Kadenz auch melodisch, daher lässt sich die Form auch als Kanzonenstrophe mit erweitertem Abgesang deuten, der in sich wieder eine Barform bildet.
Text: |
aaaaaax |
bbbbbbx |
cccy |
cccy |
cccy |
Melodie: |
A |
A |
B |
B |
C |
[36] Eine ausdrückliche Zuweisung an den Mönch ist in den Handschriften nicht vorhanden. Der Autorenname in D ist nachgetragen. Aufgrund der unterschiedlichen Textüberlieferung zweifelt Wachinger die Autorenschaft des Mönchs an (Wachinger 1989, 36)
[1] Editionen: Spechtler 1972 bietet eine vollständige Textausgabe der geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg und führt die Zählung für die geistlichen Lieder des Mönchs ein: G + Nummer des Liedes; März 1999 ediert Texte und Melodien mit Kommentaren der weltlichen Lieder und führt dafür die Zählung W + Nummer ein; Waechter 2004 bringt alle Melodien des Mönchs mit Kommentar.
[2] Vgl. Spechtler 1972, 92.
[3] G 22. Die Zuschreibung ist nicht gesichert: vgl. » B. Geistliches Lied, Anm. 51.
[4] Vgl. Spechtler 1972, 69; Wachinger 1987, 662.
[5] Vgl. Zimmermann 1995, 314–316.
[6] Vgl. Wachinger 1987, 659.
[7] Beschreibung aller Handschriften bei Spechtler 1972, 34–99, und Waechter 2005, 203. In Klammer stehen im Folgenden die in der germanistischen Fachliteratur gebräuchlichen Siglen.
[8] Faksimileausgabe von Heger 1968.
[9] Bei diesem Lied bricht die Notierung nach eineinhalb Zeilen ab. Das Lied ist hingegen vollständig erhalten in der Kolmarer Liederhandschrift (D-Mbs Cgm 4997): vgl. Lütolf 2003-2010, Nr. 151. (Hinweis von Andrea Horz.)
[10] Man kann dieses Stück auch als Leich bezeichnen. Die formale Anlage aa, bb, cc, … ist die gleiche.
[11] Vgl. Spechtler 1972, 125-128; Waechter 2004, 35-39 und 211-214.
[12] Vgl. Wachinger 1989, 77–79.
[13] Vgl. Wachinger 1987, 660.
[14] Heger 1968, 29.
[15] Ein Leutpriester (Plebanus) war für die Seelsorge der Laien zuständig und hatte pfarrliche Rechte. Daher wird der Ausdruck oft synonym für „Pfarrer“ gebraucht.
[16] Zur Bedeutung Pilgrims für die Entwicklung der Musik in Salzburg siehe: Welker 2005, 76–87.
[17] Das Lied wird aufgrund seiner Überschrift mit Schloss Freisaal in Salzburg in Zusammenhang gebracht. Die Personenangabe könnte aber auch eine dichterische Fiktion sein. Vgl. hierzu Engels 2012.
[18] Dass dabei auch mehrstimmige Musik erklang, wurde oft vermutet, lässt sich aber nicht nachweisen.
[20] Vgl. Spechtler 1972, 15–16.
[21] Vgl. Spechtler 1972, 16–17.
[22] G 5 und G 9. Zu den Personen siehe Spechtler 1972, 17–18.
[23] D-Mbs Cgm 715.
[24] Unter „Predigerorden“ werden die Dominikaner verstanden.
[26] Heger 1968, 27. Dies trifft nicht zu. Ein Vergleich des Cisiojanus G 45 mit dem Kalender im Breviarium Salisburgense (Nürnberg: Stuchs 1497) zeigt, dass alle Heiligen auch dort aufgelistet sind, mit folgenden Ausnahmen: „Magdalen becheret“, d. i. Maria von Ägypten 1.4., Bernhard 20.8., Felix von Zürich 11.9., und das Gedenken an Ester im Advent.
[28] Pokorny 2012, 105.
[29] Klein 2012, 59.
[30] Spechtler 1972, 13.
[31] Vgl. Wachinger 1989, 159.
[32] Zu den einzelnen Gattungen siehe Waechter 2005, 53–58; zu den Tönen des Mönchs Wachinger 1989, 159–197.
[33] Vgl. Waechter 2004, 75, 239; Waechter 2005, 6–8, 211, 263–264. Vgl. Kap. Ton und Kontrafaktur: der Barantton.
[34] Spechtler 1972, 167. Unter „par“ (= Bar) versteht der Schreiber hier eine ganze Strophe.
[35] Vgl. Spechtler 1972, 6, Anm. 9.
[36] Eine ausdrückliche Zuweisung an den Mönch ist in den Handschriften nicht vorhanden. Der Autorenname in D ist nachgetragen. Aufgrund der unterschiedlichen Textüberlieferung zweifelt Wachinger die Autorenschaft des Mönchs an (Wachinger 1989, 36).