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Beispiele für geistliche Lieder

Stefan Engels

Bei dem in fünf Handschriften überlieferten Gesang Von anegeng der sunne klar (G 21) handelt es sich, wie die Überschrift „A solis orto (des Munichs)“ in D zeigt, um eine wörtliche Übertragung des Hymnus zur Laudes (Morgengebet) an Weihnachten. Der lateinische Text wird dem Sedulius (1. Hälfte des 5. Jahrhunderts) zugeschrieben.  Die deutsche Übertragung ist bereits in der Sterzinger Miszellaneenhandschrift enthalten, die textliche Überlieferung ist aber variantenreich.[36]

Die Übersetzung (hier die erste Strophe) lehnt sich eng, aber nicht gezwungen an die lateinische Vorlage an. Zum Vergleich die wörtliche lateinische Übersetzung: „Vom Ausgang des Sonnenaufganges bis an die Grenze der Erde singen wir Christus, dem Fürsten, geboren von der Jungfrau Maria.“ Der Mönch übernahm auch das antike Metrum dieses Hymnus. Er steht im sogenannten „jambischen Dimeter“, der durch die viermalige Abfolge von × — ◡ — × — ◡ — pro Zeile und vier Zeilen pro Strophe gekennzeichnet ist. — steht dabei für eine lange Silbe, ◡ für eine kurze Silbe und × für eine Syllaba anceps, die lang oder kurz sein kann. Seit dem 4. Jahrhundert kam es allerdings zu einem Wechsel von quantitierenden zu akzentuierenden Silben. Länge und Akzent einer Silbe fallen seither in der Regel zusammen, so auch in der deutschen Sprache. Daher ersetzte auch der Mönch die Längen und Kürzen des Jambischen Dimeters durch betonte und unbetonte Silben. Da alle Strophen gleich gebaut sind, könnte dieser Hymnus auch im Gottesdienst eingesetzt worden sein, am ehesten in einem Nonnenkloster.

Das Lied Grüest seist, heiliger tag (G 31) ist nur in A auf fol. 139v überliefert. Es trägt die Überschrift „Salve festa dies ze Ostern“. Im Register auf fol. 3r heißt es: „Zw Österleicher czeit das frëwden gesangk Salve festa dies daz wirt gesungen all suntag so man vmb dy kirchen mit der proces get“. Es handelt sich also um eine Übertragung des Prozessionshymnus des Venantius Fortunatus († ca. 600) zur Prozession vor der Messe in der Osterzeit. Der Hymnus besteht aus einer Refrainstrophe und vier weiteren Strophen. Auch hier ist der Text eine fast wörtliche Übertragung des lateinischen Textes, aber mit dem Unterschied, dass der Mönch das ursprüngliche Metrum, ein elegisches Distichon, zu einem Paarreim verändert, das melodische Modell jedoch gleich belassen hat. In der mittelalterlichen Liturgie war es üblich, dass Refrainstrophen  nicht immer als Ganzes wiederholt wurden, sondern dass jede zweite Wiederholung nur aus der zweiten Hälfte des Refrains bestand. Daher wird nach der Strophe „Ecce renascentis“ mit „Qua deus infernum“ (der zweiten Hälfte des Refrains „Salve festa“) fortgesetzt. Nach der Handschrift A ist hingegen der Refrain „Grüest seist“ bei vier der fünf Strophen vollständig zu wiederholen, nur nach der dritten Strophe, also genau in der Mitte der Dichtung, wird nur der zweite Teil ab „Als got dy seynen“ gesungen. 

Notenbsp. Salve festa dies

Notenbsp. Salve festa dies

Der Hymnus Salve festa dies (in dieser Version aus dem nach 1500 entstandenen Codex » A-MB Man. cart. 1, fol. 88v) diente als Vorlage für das Lied Grüest seist, heiliger tag des Mönchs von Salzburg in » D-Mbs Cgm 715, fol. 139v.

Die Übersetzung des lateinischen Textes lautet:Sei gegrüßt heiliger Tag, verehrungswürdig in Ewigkeit,an dem der Herr die Unterwelt besiegt und den Himmel in Besitz nimmt.Siehe, die Anmut der wiedergeborenen Welt bezeugt,dass alle Gaben (der Natur) mit ihrem Herrn zurückgekehrt sind.

Das Weihnachtslied Maria, keusche muter zart (G 10) ist ein Beispiel für einen frei komponierten Gesang. Der Ton dieses Liedes heißt der „Lange Ton“. Auf seine Melodie sind auch die Texte der Lieder G 33 (Pfingstlied Kum, senfter trost heiliger geist) und G 37 (Got, in drivaltikait ainvalt) gedichtet.

Die Form ist eine interessante Variante der Kanzonenstrophe mit doppeltem Stollenpaar und einfachem Abgesang,  B und C sind dabei metrisch identisch, die Kadenz auch melodisch, daher lässt sich die Form auch als Kanzonenstrophe mit erweitertem Abgesang deuten, der in sich wieder eine Barform bildet.

Text:

aaaaaax

bbbbbbx

cccy

cccy

cccy

Melodie:

A

A

B

B

C

 

 

[36] Eine ausdrückliche Zuweisung an den Mönch ist in den Handschriften nicht vorhanden. Der Autorenname in D ist nachgetragen. Aufgrund der unterschiedlichen Textüberlieferung zweifelt Wachinger die Autorenschaft des Mönchs an (Wachinger 1989, 36)