„Mehrfacher Sinn“ von Text und Musik der Missa Salve diva parens
In einigen Handschriften ist in der Tenorstimme von Obrechts Missa Salve diva parens teilweise in Rot ein Text unterlegt, der nicht zum Messordinarium gehört (» Abb. Kyrie Salve diva parens). Solche Textangaben sind üblicherweise ein Hinweis darauf, über welches Material – das heißt, welche liturgische, geistliche oder weltliche Melodie – eine Cantus firmus-Messe konstruiert ist. Mit dem gattungstypisch anmutenden Salve diva parens (das in A-Wn Mus.Hs. 15495 zudem als Überschrift der Messe notiert ist) stehen wir aber vor einem Rätsel: Dieser so prominent angegebene Text ist nämlich anderweitig nicht überliefert.[19]
Text Salve diva parens
Salve diva parens prolis amoenae, |
Sei gegrüßt, göttliche Mutter des lieblichen Sprösslings, |
Aeternis meritis virgo sacrata, |
durch ewige Verdienste heilige Jungfrau, |
Qua lux vera, deus, fulsit in orbem |
durch welche das wahre Licht, Gott, in den Erdkreis strahlt |
Et carnem subiit rector Olympi. |
und der Lenker des Olymp Fleisch geworden ist. |
In der ersten Vershälfte einem Hexameter gleich (insofern formidentisch mit den ersten Worten des Introitus der Marienmesse Salve sancta parens), ist sein Metrum ein seltenes, nachklassisches, das sicherlich in den Kontext humanistischer Dichtungen gehört.[20] Auch inhaltlich nimmt der Text auf Salve sancta parens Bezug. Bemerkenswerterweise weichen die Eingangsworte in dem Wort „diva“ jedoch von Salve sancta parens ab. „Diva“ ist für Maria kein typisches Epitheton wie „sancta“ oder „vera“. Hier wird explizit die göttliche Mutter, danach ihr göttlicher Sohn begrüßt – was nicht ausschließlich christliche, sondern auch mythologische Anklänge hat (vgl. etwa Vergils Aeneis).
Der Herrscher wird überraschenderweise mit dem nichtchristlichen Bild des „Lenkers des Olymp“ („rector Olympi“) angesprochen, wodurch neben der erwarteten Bedeutung „Jesus“ auch „Jupiter“ (der eigentliche „rector Olympi“[21]) mitschwingt bzw. die beiden Vorstellungen ineinandergleiten. Und auch für „Olympi“ hätte es selbstverständlich die christlich üblichere Alternative „caeli“ gegeben.
Bei Salve diva parens handelt es sich also um einen Text, der zwar formal und inhaltlich liturgische Topoi aufgreift, aber keineswegs liturgisch ist, sondern auf kunstvollste Weise neu geschaffen (» I. Humanisten). Christliches und Antik-Mythologisches sind miteinander vermischt: [22] Inhaltlich spielt der Text, in dem es um die Erleuchtung der Welt durch die Fleischwerdung des Herrschers geht, nicht nur auf Gott und Christus, sondern auf den Herrscher allgemein an. Diese Eigenheit ist vor dem Hintergrund einer reinen Marienmesse aber ebenso schwer verständlich wie das kunstvoll-gesuchte Metrum des Textes.
So wie der neulateinische Text bewusst ambigue gehalten ist (indem er christlich-liturgische wie mythologisch-klassische Begriffe verwendet), ist auch die musikalische Konstruktion eigentümlich doppeldeutig. Einige Wissenschaftler haben darauf hingewiesen, dass einerseits in den ersten Tenortönen der einzelnen Messsätze eine fixe Melodie als Cantus firmus wiederzukehren scheint. Dies entspricht auch der Erwartungshaltung an die legitimierte Konstruktion einer zeitgenössischen Cantus-firmus-Messe und wird durch die Überschrift entsprechend suggeriert. Andererseits aber wird der Cantus firmus in der Komposition offensichtlich nicht beibehalten, vielmehr scheint die Messe über weite Strecken eher frei komponiert bzw. setzt rein musikalische Konstruktionsprinzipien um (etwa motivisch-additive Konstruktionen[23] und in-sich-drehende Wendungen; » Hörbsp. ♫ Qui cum Patre).
Sowohl der erklingende Text, als auch die musikalische Struktur von Salve diva parens arbeiten also mit dem Prinzip der Überlagerung zweier Ebenen. – Vergleichbares ist aus dem Kontext der Herrscherinszenierung bereits seit dem Mittelalter bekannt und erfährt gerade bei Maximilian I. eine besondere Blüte (vgl. Kap. „Mehrfacher Sinn“: Maria als Mutter des zukünftigen Herrschers).
[19] Die Rekonstruktion des lateinischen Textes nach Staehelin 1975, 20–23.
[20] Der unterlegte Text, eine Art Hymnenstrophe, könnte eine humanistische Erweiterung des marianischen Hymnus O quam glorifica luce coruscas (zugeschrieben an Hucbald von Saint-Amand, 840–930), im gleichen seltenen Metrum (katalektischer Asclepiadeus minor) darstellen, zumal der – bekanntlich nicht rekonstruierbare – Cantus firmus der Messe Ähnlichkeiten mit jenem aus Févins Missa O quam glorifica aufzuweisen scheint (Strohm 1985, 148).
[21] „Rector“ kommt im Neuen Testament nicht vor, häufig aber bei Ovid, insbesondere bezogen auf Augustus und Jupiter; dazu Flieger 1993, 67–69.
[22] Vgl. Stieglecker 2001, u. a. 388–391; zur humanistischen Heiligenverehrung allgemein, ebenda, 17–122.
[23] Vgl. Wegman 1994, 179–183.
[1] Vgl. Dunning 1970.
[2] Grundsätzliches zur symbolischen Beziehung von Cantus firmus-Material und Messkomposition bei Kirkman 2010. Reinhard Strohm kann die Entstehung zweier Obrecht-Messen mit Stiftungen in Brügge plausibel machen (Strohm 1985], 40 f., 146 f.). Zu Obrechts Missa Sub tuum presidium, siehe » J. Körper und Seele.
[3] Roth 1998, bes. 46 f., 52 f., 55. Von Rom aus fand die Messe wohl Mitte der 1490er Jahre ihren Weg in das umfangreiche Chorbuch » I-VEcap 761. Zu Entstehungszeit und -umständen dieser Handschrift vgl. Rifkin 2009.
[4] Die Dokumente zur vermuteten Rom-Reise hat Rob C. Wegman zusammengestellt (Wegman 1994, 139–144), der aber davon ausgeht, dass die Messe zu dem Zeitpunkt schon in Rom vorlag.
[5] Messrepertoire der burgundischen Hofkapelle aus den 1460er und 1470er Jahren findet sich im Chorbuch » B-Br Ms. 5557 (Faksimile: Wegman 1989). Wahrscheinlich stehen auch die sechs anonym überlieferten L’homme armé-Messen aus dem Chorbuch » I-Nn Ms. VI E 40 im Zusammenhang mit der burgundischen Kapelle. – Die eng mit dem Hof in Verbindung stehenden „Alamire-Handschriften“ entstanden erst in bzw. nach der Regierungszeit von Philipp I. dem Schönen (» A-Wn Mus. Hs. 15495).
[6] Dazu Strohm 2009.
[7] Ausführliche Schilderung mit Namensnennungen von Sängern, deren Positionen und musikalischen Qualitäten bei Molinet 1935–1937, Bd. 1, 469 f.
[8] Üblicherweise wird als Datum der 17. November 1492 genannt (dazu Fiala 2015, 434); Honey Meconi (Meconi 2003, 20–23) interpretiert die überlieferten Zahlungsbelege anders und geht von einer Übernahme erst zum 30. September 1495 aus; vgl. Gasch 2015, bes. 363 f.
[9] Siehe die Schilderungen bei Molinet 1935–1937, Bd. 1, 469–471; vgl. Cuyler 1973, 32–35.
[10] Molinet 1935–1937, Bd. 1, 474.
[12] Das Lied ist in zwei zeitgenössischen Quellen überliefert, die beide Repertoire vom Hofe Maximilians widerspiegeln (» B. Lieder 1450–1520, Kap. Aufschwung der Liedkunst unter Maximilian I.; » B. Lieder 1450–1520, Kap. Liederdrucke): in » D-As Cod. 2° 142a (fol. 69v–70r; das Tenor-Inzipit der sonst textlosen Aufzeichnung lautet „hilff fraw von Ach“) und im Liederbuch » Aus sonderer künstlicher art… (Augsburg: Erhard Oeglin 1512), wo das Lied nach dem Mariengruß Dich mütter gottes rüff wir an an zweiter Stelle steht.
[13] Wolf 2005, 98–102. Friedrich verlegte dafür den ursprünglich für Dezember 1485 in Würzburg geplanten Reichstag auf den Januar in Frankfurt am Main.
[14] Zur Königswahl Maximilians siehe ausführlich Wolf 2005, 100–122, hier bes. 115 f. Bei der Zeremonie der Altarsetzung wurde der neu gewählte König in der Tat auf den Altar, den Thron Christi, gesetzt; dazu ausführlich Bojcov 2007, 243–314: „Die Altarsetzung […] war Teil der Wahlprozedur und war am besten dazu geeignet, einen aus dem Kreis der mehr oder weniger Gleichen auszusondern und über sie [zu] erheben.“ (Bojcov 2007, 292).
[15] Dazu Schenk 2003, 307–313, 336–338; vgl. auch » D. Fürsten und Diplomaten auf Reisen.
[16] Molinet 1935–1937, Bd. 1, 474 und 511. – Die Aachener Heiltum-Wallfahrt fand üblicherweise alle sieben Jahre statt.
[17] Custis 1765, 68 f.; vgl auch Wolf 2005, 191–200.
[19] Die Rekonstruktion des lateinischen Textes nach Staehelin 1975, 20–23.
[20] Der unterlegte Text, eine Art Hymnenstrophe, könnte eine humanistische Erweiterung des marianischen Hymnus O quam glorifica luce coruscas (zugeschrieben an Hucbald von Saint-Amand, 840–930), im gleichen seltenen Metrum (katalektischer Asclepiadeus minor) darstellen, zumal der – bekanntlich nicht rekonstruierbare – Cantus firmus der Messe Ähnlichkeiten mit jenem aus Févins Missa O quam glorifica aufzuweisen scheint (Strohm 1985, 148).
[21] „Rector“ kommt im Neuen Testament nicht vor, häufig aber bei Ovid, insbesondere bezogen auf Augustus und Jupiter; dazu Flieger 1993, 67–69.
[22] Vgl. Stieglecker 2001, u. a. 388–391; zur humanistischen Heiligenverehrung allgemein, ebenda, 17–122.
[23] Vgl. Wegman 1994, 179–183.
[24] Die aktuellen historischen Ereignisse haben ihre Vorbilder im Neuen Testament, die wiederum die heilsgeschichtliche Erfüllung von Ereignissen im Alten Testament darstellen. „Es findet also eine Legitimation des christlichen Herrschers aus dem Alten Bunde statt, die schon in karolingisch-fränkischer Zeit als gleichrangig neben die Legitimation aus dem antiken Imperium gestellt erscheint.“ (Cremer 1995, 88 f.).
[25] Maximilian I.: Weißkunig 1888, 47–49.
[26] Müller 1982, 147 f.; Dietl 2009, 37–40.
[27] Ca. 1513/14; Maximilian diktierte das Buch zum Teil und korrigierte es eigenhändig.
[28] » A-Whh Hs. Blau 9 Cod. 24, fol. 38r; dazu Silver 2008, 136 f., ebenda auch die Abbildung.
[29] Cremer 1995, bes. 88–99; Wiesflecker 1971, 65–67.
[30] Silver 2008, 137.
[31] Dazu Müller 1982, 147 f., 333; Wiesflecker 1971, 121, 131 f.; Molinet 1935–1937, Bd. 1, 338.
[32] Molinet 1935–1937, Bd. 1, 535 (in freier Übersetzung).
[33] „Ich habe Deinen Namen den Menschen geoffenbart, die Du mir aus der Welt gegeben hast.“ Mit diesen Worten bekundet im Johannesevangelium Christus selbst (hier Maximilian!), wessen wahrer Sohn er ist.
[34] Molinet 1935–1937, Bd. 1, 529–539; dazu Frieden 2013; Thiry 1990, 268–270.
[35] Molinet 1935–1937, Bd. 1, 533–539; dazu auch Müller 1982, 147.
[36] Ode 1,1 Caesar magnificis; dazu Mertens 2000, 74 f.; grundlegend zu diesem Themenkomplex: Tanner 1993; Seznec 1953.
[37] Wiesflecker 1991, 355 f.
[38] Im sogenannten Apel-Codex (» D-LEu Ms. 1494) scheint – vermittelt über das Hofrepertoire Friedrichs des Weisen, der spätestens ab 1490 in engstem Kontakt zu Maximilian stand – immer wieder Repertoire vom Hof Maximilians aufgenommen worden zu sein; dazu Lodes 2002, 256–258.
[39] Der Text könnte auch in der Handschrift » A-LIb Hs. 529 („Linzer Fragmente“) mit angegeben gewesen sein, nur ist hier zu wenig Musik erhalten.
[40] Zum „mehrfachen Sinn“ in spätmittelalterlicher Dichtung vgl. Wehrli 1984, bes. 236–270; Müller 1982, 146–148, auch 124–129.
[41] Die einzig weitere mir bekannte zeitgenössische Musikhandschrift, an deren Spitze die Worte „[O Mater dei] memento mei“ stehen, ist die ebenfalls in Petrus Alamires Werkstatt gefertigte Prachthandschrift B-Br 228. Dort sind die Worte der betenden Erzherzogin Margarethe, Maximilians Tochter, in den Mund gelegt; vgl. die Abbildung bei Blackburn 1997, 596 f., und Blackburn 1999, 188.
[42] Dazu u. a. Borghetti 2015; Borghetti 2008, bes. 208–214.
[43] „[…] lesquelz, ensamble unis, estoffoyent une très bonne chapelle dont il fut grandement honouré et prisiet des princes d’Alemaigne.“ (Molinet 1935–1937, Bd. 1, 470).
[45] In den Textabschnitten wird zunächst der Herr um Vergebung gebeten und dem allmächtigen König gedankt. Sodann wird für „unseren (weltlichen) König“ („Pro rege nostro“) gebetet, dass der Herr ihn erhalte und er nicht in die Hände der Feinde gerate, und dass die Seelen der Gläubigen in Frieden ruhen mögen. Nach einem gesprochenen „Vater unser“ wird abschließend musikalisch zur Jungfrau Maria gebetet, die den Sohn des ewigen Vaters ausgetragen hat. Die vertonten Bitten an Gott, für den König und für Maria werden jeweils mit einem vierstimmig gesetzten „Amen“ abgeschlossen. Die Musik folgt in ihrer rhythmischen Gestaltung (in den zwei- wie in den vierstimmigen Abschnitten) genau der Textdeklamation (dazu Edwards 2011, 62 f.), die weitgehend homorhythmische, schlichte Satzweise ändert sich das gesamte Stück hindurch nicht, bleibt also für die drei Inhaltsbereiche gleich.
Empfohlene Zitierweise:
Birgit Lodes: “„Mehrfacher Sinn“: Jacob Obrechts Missa Salve diva parens und die Königskrönung Maximilians”, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/mehrfacher-sinn-jacob-obrechts-missa-salve-diva-parens-und-die-konigskronung-maximilians> (2017).