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Entwicklung der Kantorei von St. Stephan

Reinhard Strohm

Der Name „Cantorey“ bezog sich als Übersetzung des lat. „cantoria“ ursprünglich nur auf das Amt des Kantors einer Dom- oder Kollegiatkirche, wurde aber in Wien spätestens ab 1403 auch für die musikpflegende Institution gebraucht, die in Klöstern von alters her „schola cantorum“ hieß. So konnte nun „Cantorey“ auch das musizierende Ensemble unter Leitung des Kantors oder Schulmeisters bezeichnen, oder gar den Ort, an dem es sich regelmäßig zusammenfand. Eine Urkunde von St. Stephan vom 6. September 1403 nennt den Kantor „Petrenn cantor zu sand stephan und kaplan der messe auf sand dorotheen altar der zur cantorey gehört“;[67] in zwei Urkunden von 1404 erscheint er als „Peter der Hofmaister die Zeit cantor dacz sand Stephan und Kappelan sand Dorotheen altar in der Schuler zech“.[68] Die Kirchmeisterrechnung von 1404 registriert umfangreiche Ausbesserungsarbeiten (Holz, Nägel, Gerätschaft und Arbeitslohn) für die „cantorey auf dem letter“.[69] Somit befand sich damals die Kantorei – als physischer Ort – auf dem Lettner der Kirche, einem galerieartigen Bauwerk zwischen Hochchor und Kirchenschiff; als Institution war sie eine Altarpräbende für den Kantor, die auf den Dorotheenaltar[70] in der Schülerzeche (Schulhaus) gestiftet war, und als persönliche Funktion gehörte sie dem mehrfach belegten Kantor Peter (Hofmaister). Er war als Kaplan kein „bürgerlicher Kantor“,  jedoch war er nicht der Kapitelkantor (der als Chorherr die rudolfinische Präbende bezog), sondern der Schulkantor.[71] Die Wohnung des Schulkantors befand sich auf dem Stephansfriedhof in der Nähe des Schulhauses bzw. im Schulhaus selbst. Die Schulkantorei wurde bis 1440 weitgehend aus Altarpräbenden und anderen Stiftungen finanziert, sowie den Einkünften vom Stadtrat für das Singen der „chlag“ (vgl. Kap. Kirchen- und Stadtrechnungen). Stiftungsurkunden existieren vom 7. April 1421 über 8 tl. jährlich zugunsten der der Kantorei zugehörigen Messe, vom 5. Mai 1445 über 6 tl. für den „Verweser“ (Verwalter) der Kantorei und von 1449 über 12 tl. 4 s. ebenfalls für die Kantorei.[72] Eine verlässliche Chronologie der Schulkantoren ist bisher noch nicht erstellt worden, da die Unterscheidung zwischen Kapitelkantor und Schulkantor meist vernachlässigt wurde.[73] Bisher sind folgende Schulkantoren namentlich bekannt: Peter Hofmeister (1403/04), Johann von Neuburg (1405),[74] Sigmund Kunigswieser (1430), Peter der Marolt (gest. 1444),[75] Hermann Edlerawer (1440–1444?), Conrad Lindenfels (1449–vor 1457), Thomas List (1463–1467), Hans Payr (1469–1485), Wolfgang Goppinger (1486–1492).[76]

[67] Camesina 1874, 24, Nr. 101.

[68] Camesina 1874, 26, Nr. 113 und 114 (12. und 13. Dezember 1404).

[69] Schusser 1986, 75, Nr. 50 (Lohrmann).

[70] Dass der Dorotheenaltar vor dem Lettner stand (Perger/Brauneis 1977, 61 und Anm. 214), lässt sich aus den Belegen von 1403–1404 nicht ableiten. Die Einkünfte des Altars gehörten „in die Schülerzeche“, womit in diesem Zusammenhang nicht eine „Bruderschaft der Schüler“ gemeint war (Lohrmann in Schusser 1986, 75, Nr. 50), sondern das Schulgebäude selbst.

[71] Nicht zu verwechseln mit einem damaligen (1399) Chorherrn Peter von St. Margrethen.

[72] Mayer 1895–1937, Abt. II/Bd. 2, Nr. 2159 bzw. Nr. 3076. 1449: OKAR 10 (1449), fol. 28v.

[73] Die Angaben bei Brunner 1948 sind teilweise überholt.

[74] Göhler 1932/2015, 228, Nr. 98.

[75] Mayer 1895–1937, Abt. II/Bd. 2, Nr. 2978; eine Erwähnung von „Peter Marold, cantor“ in OKAR 18 (1461), fol. 19v, könnte sich auf einen anderen Kantor dieses Namens beziehen oder rückblickend zu verstehen sein.

[76] Alle außer Neuburg genannt bei Czernin 2011, 87 f. Diese Liste enthält andererseits auch die Kapitelkantoren Ulreich Musterer († 1426), Wolfgang von Knüttelfeld († 1473), Hanns Huber (1474), Brictius (1470er Jahre) und Conrad Lindenfels (1479–1488, er war 1449–1457 Schulkantor gewesen); ein „Kaspar“ (1448) könnte mit dem Chormeister Kaspar Wildhaber (1423/24) identisch sein. Die hinzukommenden Namen bei Flotzinger 2014, 57, Anm. 49, gehören alle „Chormeistern“, die Flotzinger in Anlehnung an Mantuani 1907 und Flieder 1968 irrig mit Kantoren gleichsetzt. Vgl. Kap. Die institutionelle Grundlage des Stephanskapitels.