Titelblätter als Schlüssel zur Funktion der Lautenhandschriften
Die karge Überlieferung von Namen und auch Widersprüche zwischen den Namen auf dem Deck- oder Titelblatt und der Anzahl der tatsächlichen Schreiber eines Manuskriptes ist in den meisten frühen Lautenhandschriften im süddeutschen Raum die Norm. Von den vier Schreibern des Manuskripts A-Wn Mus. Hs. 18827 sind auf der hinteren Innenseite des Pergamentdeckblattes nur ein Name – Antonius - und zwei Zeichnungen zu finden: das Portrait eines bärtigen Mannes (oben rechts) und die Skizze eines Menschen (unten links) (» Abb. Tabulaturhandschrift A-Wn Mus. Hs. 18827). Außer einzelnen lesbaren Wörtern wie „ich“ und „Benedicte“ erscheint auf dem Blatt noch zweimal die Phrase „Ain gesellen strecken“ [“Auf Gesellen Wegen“] [39]. Sie könnte ein wichtiger Hinweis auf einen zugehörigen Gesellen- bzw. Freundeskreis sein und darauf hindeuten, dass das Lautenheft auf die Reise mitgenommen oder von Reisenden gefüllt wurde.
Ergiebiger ist die Betrachtung des Titelblatts der Tabulatur PL-WRk 352. Das jetzt in Wrocław aufbewahrte Manuskript wurde von drei Schreibern in italienischer (fols. 3r -37r) und deutscher (37v-75v) Lautentabulatur zwischen 1530 und 1550 verfasst und vermutlich auf Reisen zwischen Norditalien und der Wiener Gegend mitgenommen. Das Titelblatt bietet wesentliche Anhaltspunkte zu Datierung und Funktion dieser Handschrift.[40] Auf dem Titelblatt, oben im Zentrum, steht „M.D.XXXVII“, 1538 (» (» Abb. Tabulaturhandschrift PL-WRk 352, Titelblatt).
In der Überschrift „Sum Joannis huldericij ab Harditsch et Amicor[um]“ (Abb. oben, hellere Tinte) kann man den Namen von Joannis Hulderic von Harditsch und die Widmung „den Freunden“ („et Amicorum“) lesen. Von ihnen weiß man allerdings nichts, man darf aber annehmen, dass sie zum Bildungsmilieu gehörten, da die gleiche Hand die lateinische Sentenz „Audentis fortuna iuvat“ („Wer da wagt, dem hilft das Geschick“) aus Vergils Aeneis (X, 284) einfügte – vermutlich als eine Devise für dieses Lautenheft. Der Eintrag links oben verweist auf den Namen von „J. C. Hogkhner“[41] mit einer anschließenden, nun deutschsprachigen Sentenz „Hoffnung macht geduld“ und einem Monogramm AE inmitten der Jahreszahl 1540.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass „J. C. Hogkhner“ der 1554 an der Wiener Universität immatrikulierte „Joannes Högkhner Vienn[ensis]“ war.[42] Jedenfalls gehörte er – ähnlich Hulderic – offenbar ebenfalls zum Kreis der humanistisch Gebildeten, was nicht zuletzt das Prunken mit Sentenzen auf dem Titelblatt der Tabulatur anzeigt. Auffallend ist, dass alle erwähnten Namen mit „H“ beginnen, welches die Auswahl der Sentenz durch die Anspielung auf das Wort „Hoffnung“ erklären könnte. Auch die nächste Sentenz von Högkhner beginnt mit einem „H“: „Hofnung und Harren Macht Narren, / Neidhart, Nemo“ (»Abb. Tabulaturhandschrift PL-WRk 352, Titelblatt, im Zentrum). Eine andere, dritte Hand, zu der die oben mittig geschriebene Jahreszahl 1538 gehören könnte, notierte noch zwei lesbare Sentenzen aus den Disticha Catonis. Die erste ist von besonderem Interesse: „Hoc faciunt stulti quos gloria vexat inanis“ („Narren tun dies, die eitle Ruhmsucht plagt“, II, 16).[43] Es scheint also, dass der Schreiber mit der Jahreszahl „1538“ die Sentenz in Latein eintrug und Högkhner seine deutsche Interpretation zwei Jahre später (1540) beisteuerte. Dieser Zusammenhang bekräftigt die These über die gemeinsame Arbeit eines Gesellenbundes von Lautenisten und zeigt, dass die Lautentabulatur an die Tradition der für das 16. Jahrhundert charakteristischen mehrsprachigen Lehrbuch- und Unterhaltungsliteratur anschließt. Die Disticha Catonis bildeten einen der beliebtesten Lehrstoffe in diesem Milieu. Sie verkörpern eine bis mindestens in die 1590er Jahre belegbare Tradition der Schul- und Universitätsbücher mit Sentenzensammlungen.[44] In der Wiener Kodrei Goldberg wurden beispielsweise in den untersten Klassen das Lesen und Schreiben sowie die Grundlagen der lateinischen Sprache, Vokabeln, Deklination und Konjugation anhand der Disticha Catonis erlernt.[45] Das Titelblatt der Lautentabulatur enthält noch Notizen von mindestens zwei weiteren Händen: unlesbare Sentenzen (»Abb. Tabulaturhandschrift PL-WRk 352, Titelblatt, unten und mittig links), die etwas höher rechts eingetragene Jahreszahl 1544 mit einem zwischen die Zahlen eingefügten Monogramm „WS“, weiteren Monogrammen und letztlich dem Namen „Mg [Mag,?] Ostermayr“.[46] Am Titelblatt der Handschrift PL-WRk 352 waren also mindesten fünf Schreiber beteiligt, während die musikalischen Beiträge von maximal drei Schreibern stammen.
[39] Christian Meyer meinte hier „Ich Hans Antonius“ zu lesen. Das vermutliche Wort „Hans“ beginnt jedoch eindeutig mit „ch“, genauso wie „ich“ vorher endet. Meyer 1986, 275.
[40] Einsicht in die Handschrift verdanke ich der Biblioteka Kapitulna in Wrocław. Eine vollständige Edition in Faksimile von Dr. Grzegorz Joachimiak im Verlag der Karol Lipiński Akademie für Musik, Wrocław, ist in Vorbereitung. Die Abbildungen von Titelblatt und fols. 38r und 45r erfolgen hier mit besonderer Genehmigung der Biblioteka Kapitulna, des Verlages und des Herausgebers.
[41] In der Musikwissenschaft hat sich seit dem Beitrag von Max Schneider eine andere Lesart, nämlich „J. C. Pogkhner“ etabliert. Der Nachname lässt sich jedoch eher als „Hogkhner“ lesen. (Für die Hilfe beim Lesen danke ich Edit Anna Lukacs.) Alle Forscher wiederholen außerdem das von Max Schneider falsch gelesene Datum 1537. Vgl. Schneider 1929, 176; RISM B VII, 371; Meyer 1986, Bd. I., 282.
[42] 1554 I A35, in: Gall-Szaivert 1971, 105.
[43] Dass die Sentenzen, wie in diesem Fall, nur partiell verwendet wurden, kommt in den Lautenbüchern häufig vor: vgl. Schöning 2020, 214-220. Dieses Zitat würde vollständig lauten: „Nec te collaudes nec te culpaveris ipse; hoc faciunt stulti, quos gloria vexat inanis.“ (Lobe dich nicht selbst und mach dir vor anderen keine Vorwürfe; Narren tun dies, die eitle Ruhmsucht plagt), in: Hubertus Kudla, Lexikon der lateinischen Zitate, München 2007, 254, Nr. 1617.
[44] Vgl. Baldzuhn 2009, 310f.; Schöning 2020, 214-220.
[46] Der Name ist aufgrund seiner weiten Verbreitung im süddeutschen Sprachraum ebenso schwer identifizierbar wie die anderen.
[1] Ausführlicher vgl. Malecek 1957/58, 73-89, und » E. Musiker in der Stadt.
[2] Malecek 1957/58, 89.
[3] Boos 1878, 135-136; eine kürzere Version des Textes bei Daniel Albert Fechter, Thomas und Felix Platter. Zwei Autobiographieen. Ein Beitrag zur Sittengeschichte des XVI. Jahrhunderts, Basel 1840, 124.
[4] Heinrich Bebelius, Opusculum de institutione puerorum, Straßburg 1506 und 1513, zit. nach Niemöller 1969, 538-539.
[5] Zit. nach Vormbaum 1860, 140.
[6] Vgl. „Hermann von Weinsberg“, in: Repertorium Academicum Germanicum (RAG), https://database.rag-online.org/viewer.p/1/4/object/46-2212430 RAG-ID: ngRH3I072QJ80gnllRKgaPdI (Zugang 25.01.2019).
[7] Weinsberg 1537, zit. nach Niemöller 1969, 266.
[9] Király 2010, 134.
[10] Király 2010, 133.
[12] Martinez-Göllner 1969, 29-48; Göllner 1979; Ness 1984.
[13] Schreiberklassifikation nach Martinez-Göllner 1969, 41-43.
[14] Reichert-Lechner 1953, 196-197.
[15] Der Begriff chitara wurde im 16. Jahrhundert oft als ein Sammelbegriff für die Saiteninstrumente wie Laute, Quinterne oder Lyra verwendet.
[16] Reichert-Lechner 1953, 187, 189, 190-192, 193 Anm. 1.
[17] Josef Zuth, Handbuch der Laute und Gitarre, Hildesheim, Zürich, New York 2003, 254.
[18] Alciato 1531, fols. A2v-A3r.
[19] Das Geburts- und Todesjahr von Bulling sind nicht bekannt. Es ist allerdings nachweisbar, dass er bis 1554 in Augsburg steuerpflichtig war: Maué 2003–2005, 59.
[20] Boos 1878, 135.
[21] Maué 2003–2005, 57.
[22] Salmen 1976, 106-107.
[23] Vgl. Salmen 1976, 147.
[24] Übersetzung nach Julius Wegeler, Philosophia patrum versibus praesertim Leoninis rhythmis germanicis adiectis, iuventuti studiosae hilariter tradita, Koblenz 1869, 52, Nr. 672. https://archive.org/details/philosophiapatr00wegegoog/page/n62/mode/2up/search/Nescio+quid+sit+amor.
[25] Salmen 1976, 106.
[26] Fischart 1849, 116, 103.
[27] Fischart 1849, 97, 101, 98, 113.
[28] Loesch 2003, 116. Loesch erklärt allerdings, diese Tradition erlösche mit dem Dodekachordon, was angesichts theoretischer Schriften aus dem 17. Jahrhundert (u.a. Robert Fludd, Utriusque cosmi maioris scilicet et minoris, metaphysica, physica atque technica historia, Oppenheim 1617-1621 und Johannes Kepler, Harmonices Mundi, Linz 1619) nicht haltbar ist.
[29] Fischart 1849, 101.
[30] Fischart 1849, 115, 112.
[31] Fischart 1849, 110.
[32] Fischart 1849, 111.
[33] Fischart 1849, 113.
[34] Die Einspielungen für diesen Essay wurden von John Martling, Studierendem der Schola Cantorum Basiliensis (Klasse Prof. Marc Lewon) hergestellt.
[35] Fischart 1849, 100.
[36] Vgl. » I. Instrumentalkünstler; Malecek 1957/58, 85.
[37] Kirnbauer 2003, 243; Kirnbauer 2007, 347-359; » I. Kap. Lautenintabulierungen von Adolf Blindhamer.
[38] Kirnbauer 2003, 250-253; Heller 1827, 22.
[39] Christian Meyer meinte hier „Ich Hans Antonius“ zu lesen. Das vermutliche Wort „Hans“ beginnt jedoch eindeutig mit „ch“, genauso wie „ich“ vorher endet. Meyer 1986, 275.
[40] Einsicht in die Handschrift verdanke ich der Biblioteka Kapitulna in Wrocław. Eine vollständige Edition in Faksimile von Dr. Grzegorz Joachimiak im Verlag der Karol Lipiński Akademie für Musik, Wrocław, ist in Vorbereitung. Die Abbildungen von Titelblatt und fols. 38r und 45r erfolgen hier mit besonderer Genehmigung der Biblioteka Kapitulna, des Verlages und des Herausgebers.
[41] In der Musikwissenschaft hat sich seit dem Beitrag von Max Schneider eine andere Lesart, nämlich „J. C. Pogkhner“ etabliert. Der Nachname lässt sich jedoch eher als „Hogkhner“ lesen. (Für die Hilfe beim Lesen danke ich Edit Anna Lukacs.) Alle Forscher wiederholen außerdem das von Max Schneider falsch gelesene Datum 1537. Vgl. Schneider 1929, 176; RISM B VII, 371; Meyer 1986, Bd. I., 282.
[42] 1554 I A35, in: Gall-Szaivert 1971, 105.
[43] Dass die Sentenzen, wie in diesem Fall, nur partiell verwendet wurden, kommt in den Lautenbüchern häufig vor: vgl. Schöning 2020, 214-220. Dieses Zitat würde vollständig lauten: „Nec te collaudes nec te culpaveris ipse; hoc faciunt stulti, quos gloria vexat inanis.“ (Lobe dich nicht selbst und mach dir vor anderen keine Vorwürfe; Narren tun dies, die eitle Ruhmsucht plagt), in: Hubertus Kudla, Lexikon der lateinischen Zitate, München 2007, 254, Nr. 1617.
[44] Vgl. Baldzuhn 2009, 310f.; Schöning 2020, 214-220.
[46] Der Name ist aufgrund seiner weiten Verbreitung im süddeutschen Sprachraum ebenso schwer identifizierbar wie die anderen.
[47] Vgl. Ivanoff 1988; Young 2003, 25-142. Das Faksimile der Handschrift PES ist komplett bei Young-Kirnbauer 2003, 25-127 abgedruckt. In der einzigen kompletten Edition von PES (Ivanoff 1988, Bd. II) sind die Abschriften des Faksimiles gegenüber der Transkription um eine Seite verschoben. Die Transkription enthält keine originalen Taktstriche und Ivanoffs Unterteilung in regelmäßige Takte ist nicht immer nachvollziehbar. Die Übertragung nach dem Faksimile hat zudem keine Folio-Angaben, nur lückenhafte Seitenzahlen. Einen kompletten Index des PES mit Folio- und Seitenangaben bietet Young-Kirnbauer 2003, 140f.
[48] Young 2003, 133.
[49] Vgl. Ivanoff 1988, 155-158.
Empfohlene Zitierweise:
Kateryna Schöning: „Lautenisten und Lautenspiel in der bürgerlichen Gesellschaft des frühen 16. Jahrhunderts“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/lautenisten-und-lautenspiel-der-buergerl… (2020).