Die Laute zu Hause und im studentischen Leben
Aus dem frühen 16. Jahrhundert sind Belege erhalten über das tägliche häusliche Spiel auf der Laute und anderen Instrumenten, aber auch über die Bedeutung der Laute im Bildungsmilieu sowie über die explizite oder implizite Zugehörigkeit der Lautenisten zu damaligen Bildungseinrichtungen und im studentischen Milieu – Universitäten, hohen Lateinschulen, Bursen und ärmeren Studentenhäusern. Den Lebenserinnerungen des Augsburger Lautenisten und Professor für Medizin Felix Platter entnehmen wir einen Bericht über seine Jugendjahre (1543):
Ich hatt ein sundere inclination und neigung zu der music, sunderlich zu den instrumenten, dorumb ich dan, als ich noch gar iung, selbs anfieng seiten uf schindlen und dugen, die man zu den buchenen steckt [hölzerne Buchdeckel], zien [ziehen], ein steg dorunder machen und doruf mit den henden herigbogen [behaarter Bogen] retzgen [kratzen], welches mir gar / wol gefiel. Hort [hörte] auch meines vatters truckeren [Druckergesellen] so uf der multrummen [Maultrommel] und uf dem hackbret (das domolen [damals] seer brüchlich) schlugen, […] und anderen dischgenger, so uf der luten schlugen, ettlich gigten so in unsrem haus gar gemein was, gern und mit freuden zu. Wei auch, als meins vatters dischgenger einer, Huber von Bern, in der faßnacht nach den nachtessen am monschein die luten schlug, wie mir daß so seer gefallen hatt, und wie ich gewünscht hab, daß ich solches leren möcht, vermeinendt, ich kenne nit herlicher werden.[3]
Das Lautenspiel wurde für die Erholung und Wiederherstellung geistiger Kraft und als Ausgleich zum üblichen Unterricht empfohlen. So pflegte man die Freizeitaktivitäten von Studierenden, Gelehrten und anderen „professoren musici“ zu regulieren. Der Humanist Heinrich Bebel (1472/3–1518), Tübinger Professor für Poetik und Rhetorik, schrieb 1506 in diesem Sinne über die Anwendung von Gesang und Instrumentenspiel, unter anderem vom Spiel auf Cythara [Quinterne oder Laute] oder Lyra [lira da braccio oder Fiedel]:
Dispensandum igitur tempus est pro studio, et remissione animi. Sunt autem remittendi animi non somno nimio, neque desidia, sed in ludis, corporisque exercitatione, nec item suo tempore abstinendum cantu, musicisque organis, adsit aut cythara testudinea, aut lyra, fistula vel simile, quod sua sonoritate animum hominis componat, gravesque meditationes et curas mitigat, ut eo validius ingenium possit redire ad labores.
(Die Zeit soll also für das Studium und die Erholung des Geistes verwendet werden. Doch erhole man den Geist weder durch zu viel Schlaf noch durch Untätigkeit, sondern durch Spiele und Übungen des Körpers, und zu passender Zeit verzichte man auch nicht auf Gesang und Orgelmusik, und dabei seien auch Cythara testudinea [Laute], Lyra [Fiedel], Blasinstrument [Flöte, Pfeife] und ähnliche, die durch ihren Wohlklang den menschlichen Geist ordnen und beschwerliche Gedanken und Sorgen mildern, so dass der Intellekt umso kraftvoller die Arbeit wieder aufnehmen kann.) [4]
Die – allerdings deutlich später – protokollierte Erlaubnis in der Schulordnung aus der Wittenbergischen Kirchenordnung von 1559 bestätigt diese Gewohnheit. Die Stipendiaten durften das Lautenspiel („unergerliche Seitenspil“) eine Stunde nach dem Essen zur Erholung betreiben:
Doch [soll] jnen die Leidenliche und erbare, unergerliche Seitenspil / und Gesang, morgens und abents, allwegen ein Stund nach Essens, / pro recreatione, mit rechter bescheidenheit zugebrauchen, unabge/schlagen sein.
(Doch soll ihnen das erlaubte und ehrsame, unaufdringliche Saitenspiel und Gesang, morgens und abends, jedesmal eine Stunde nach dem Essen zur Erholung, mit rechtem Maß zu gebrauchen, unverwehrt sein.)[5]
Dass die Laute ein Bestandteil des studentischen Lebens war, bezeugt auch der seit 1534 an der Artistenfakultät der Kölner Universität immatrikulierte Hermann Weinsberg (1518–1597)[6]:
„[…] hett ich wol uff der luten oder virginail oder clavicordio oder pfeifen leren spilen umb ein geringt vur zitverdreif, dan gemeinlich alle studenten leisten dermaissen etwas […]“.[7]
Unter dem „zitverdreif“ (Zeitvertreib) wurde sicherlich nur das bloße Vergnügen verstanden, allerdings nicht das Betteln, das für ärmere Studenten überlebenswichtig war, und vermutlich zu den späteren Einwänden gegen Instrumente an Universitäten und Instrumentalmusik in Studentenhäusern beigetragen hat. Aus den allgemeinen Verhaltensregeln der Wiener Kodrei Goldberg von 1555 ist z. B. bekannt, dass Vokalmusik nach den Mahlzeiten aufgeführt werden durfte, während Instrumentalmusik nicht gestattet war.[8] Ein ähnliches Verbot wurde in den Statuten der Universität Leipzig niedergeschrieben.[9] Peter Király wies zudem nach, dass die Studenten, u. a. in Bursen, einander auf der Laute unterrichteten oder sogar Instrumente und Lautenbücher füreinander hinterließen.[10]
[3] Boos 1878, 135-136; eine kürzere Version des Textes bei Daniel Albert Fechter, Thomas und Felix Platter. Zwei Autobiographieen. Ein Beitrag zur Sittengeschichte des XVI. Jahrhunderts, Basel 1840, 124.
[4] Heinrich Bebelius, Opusculum de institutione puerorum, Straßburg 1506 und 1513, zit. nach Niemöller 1969, 538-539.
[5] Zit. nach Vormbaum 1860, 140.
[6] Vgl. „Hermann von Weinsberg“, in: Repertorium Academicum Germanicum (RAG), https://database.rag-online.org/viewer.p/1/4/object/46-2212430 RAG-ID: ngRH3I072QJ80gnllRKgaPdI (Zugang 25.01.2019).
[7] Weinsberg 1537, zit. nach Niemöller 1969, 266.
[9] Király 2010, 134.
[10] Király 2010, 133.
[1] Ausführlicher vgl. Malecek 1957/58, 73-89, und » E. Musiker in der Stadt.
[2] Malecek 1957/58, 89.
[3] Boos 1878, 135-136; eine kürzere Version des Textes bei Daniel Albert Fechter, Thomas und Felix Platter. Zwei Autobiographieen. Ein Beitrag zur Sittengeschichte des XVI. Jahrhunderts, Basel 1840, 124.
[4] Heinrich Bebelius, Opusculum de institutione puerorum, Straßburg 1506 und 1513, zit. nach Niemöller 1969, 538-539.
[5] Zit. nach Vormbaum 1860, 140.
[6] Vgl. „Hermann von Weinsberg“, in: Repertorium Academicum Germanicum (RAG), https://database.rag-online.org/viewer.p/1/4/object/46-2212430 RAG-ID: ngRH3I072QJ80gnllRKgaPdI (Zugang 25.01.2019).
[7] Weinsberg 1537, zit. nach Niemöller 1969, 266.
[9] Király 2010, 134.
[10] Király 2010, 133.
[12] Martinez-Göllner 1969, 29-48; Göllner 1979; Ness 1984.
[13] Schreiberklassifikation nach Martinez-Göllner 1969, 41-43.
[14] Reichert-Lechner 1953, 196-197.
[15] Der Begriff chitara wurde im 16. Jahrhundert oft als ein Sammelbegriff für die Saiteninstrumente wie Laute, Quinterne oder Lyra verwendet.
[16] Reichert-Lechner 1953, 187, 189, 190-192, 193 Anm. 1.
[17] Josef Zuth, Handbuch der Laute und Gitarre, Hildesheim, Zürich, New York 2003, 254.
[18] Alciato 1531, fols. A2v-A3r.
[19] Das Geburts- und Todesjahr von Bulling sind nicht bekannt. Es ist allerdings nachweisbar, dass er bis 1554 in Augsburg steuerpflichtig war: Maué 2003–2005, 59.
[20] Boos 1878, 135.
[21] Maué 2003–2005, 57.
[22] Salmen 1976, 106-107.
[23] Vgl. Salmen 1976, 147.
[24] Übersetzung nach Julius Wegeler, Philosophia patrum versibus praesertim Leoninis rhythmis germanicis adiectis, iuventuti studiosae hilariter tradita, Koblenz 1869, 52, Nr. 672. https://archive.org/details/philosophiapatr00wegegoog/page/n62/mode/2up/search/Nescio+quid+sit+amor.
[25] Salmen 1976, 106.
[26] Fischart 1849, 116, 103.
[27] Fischart 1849, 97, 101, 98, 113.
[28] Loesch 2003, 116. Loesch erklärt allerdings, diese Tradition erlösche mit dem Dodekachordon, was angesichts theoretischer Schriften aus dem 17. Jahrhundert (u.a. Robert Fludd, Utriusque cosmi maioris scilicet et minoris, metaphysica, physica atque technica historia, Oppenheim 1617-1621 und Johannes Kepler, Harmonices Mundi, Linz 1619) nicht haltbar ist.
[29] Fischart 1849, 101.
[30] Fischart 1849, 115, 112.
[31] Fischart 1849, 110.
[32] Fischart 1849, 111.
[33] Fischart 1849, 113.
[34] Die Einspielungen für diesen Essay wurden von John Martling, Studierendem der Schola Cantorum Basiliensis (Klasse Prof. Marc Lewon) hergestellt.
[35] Fischart 1849, 100.
[36] Vgl. » I. Instrumentalkünstler; Malecek 1957/58, 85.
[37] Kirnbauer 2003, 243; Kirnbauer 2007, 347-359; » I. Kap. Lautenintabulierungen von Adolf Blindhamer.
[38] Kirnbauer 2003, 250-253; Heller 1827, 22.
[39] Christian Meyer meinte hier „Ich Hans Antonius“ zu lesen. Das vermutliche Wort „Hans“ beginnt jedoch eindeutig mit „ch“, genauso wie „ich“ vorher endet. Meyer 1986, 275.
[40] Einsicht in die Handschrift verdanke ich der Biblioteka Kapitulna in Wrocław. Eine vollständige Edition in Faksimile von Dr. Grzegorz Joachimiak im Verlag der Karol Lipiński Akademie für Musik, Wrocław, ist in Vorbereitung. Die Abbildungen von Titelblatt und fols. 38r und 45r erfolgen hier mit besonderer Genehmigung der Biblioteka Kapitulna, des Verlages und des Herausgebers.
[41] In der Musikwissenschaft hat sich seit dem Beitrag von Max Schneider eine andere Lesart, nämlich „J. C. Pogkhner“ etabliert. Der Nachname lässt sich jedoch eher als „Hogkhner“ lesen. (Für die Hilfe beim Lesen danke ich Edit Anna Lukacs.) Alle Forscher wiederholen außerdem das von Max Schneider falsch gelesene Datum 1537. Vgl. Schneider 1929, 176; RISM B VII, 371; Meyer 1986, Bd. I., 282.
[42] 1554 I A35, in: Gall-Szaivert 1971, 105.
[43] Dass die Sentenzen, wie in diesem Fall, nur partiell verwendet wurden, kommt in den Lautenbüchern häufig vor: vgl. Schöning 2020, 214-220. Dieses Zitat würde vollständig lauten: „Nec te collaudes nec te culpaveris ipse; hoc faciunt stulti, quos gloria vexat inanis.“ (Lobe dich nicht selbst und mach dir vor anderen keine Vorwürfe; Narren tun dies, die eitle Ruhmsucht plagt), in: Hubertus Kudla, Lexikon der lateinischen Zitate, München 2007, 254, Nr. 1617.
[44] Vgl. Baldzuhn 2009, 310f.; Schöning 2020, 214-220.
[46] Der Name ist aufgrund seiner weiten Verbreitung im süddeutschen Sprachraum ebenso schwer identifizierbar wie die anderen.
[47] Vgl. Ivanoff 1988; Young 2003, 25-142. Das Faksimile der Handschrift PES ist komplett bei Young-Kirnbauer 2003, 25-127 abgedruckt. In der einzigen kompletten Edition von PES (Ivanoff 1988, Bd. II) sind die Abschriften des Faksimiles gegenüber der Transkription um eine Seite verschoben. Die Transkription enthält keine originalen Taktstriche und Ivanoffs Unterteilung in regelmäßige Takte ist nicht immer nachvollziehbar. Die Übertragung nach dem Faksimile hat zudem keine Folio-Angaben, nur lückenhafte Seitenzahlen. Einen kompletten Index des PES mit Folio- und Seitenangaben bietet Young-Kirnbauer 2003, 140f.
[48] Young 2003, 133.
[49] Vgl. Ivanoff 1988, 155-158.
Empfohlene Zitierweise:
Kateryna Schöning: „Lautenisten und Lautenspiel in der bürgerlichen Gesellschaft des frühen 16. Jahrhunderts“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/lautenisten-und-lautenspiel-der-buergerl… (2020).