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Das Schriftbild der Tabulaturen und die Musik

Kateryna Schöning
Die enge Anbindung an Italien, insbesondere Norditalien (» Laute in humanistischen Kreisen) förderte nicht nur den Austausch von Repertoire, wie die Übernahme des der Gattung des Ricercares nördlich der Alpen zeigt (» Notenbsp. Recercare; » Hörbsp.  Recercare).

 

 

Es handelt sich hier um eine tiefgreifende Zusammenwirkung von improvisierten und notierten Praktiken. Die Art, wie die Musik in den handschriftlichen Lautentabulaturen notiert wurde, zeigt eine Schnittstelle zwischen den ex tempore und den an die Schrift gebundenen Spieltraditionen. Die frühen süddeutschen Lautentabulaturen demonstrieren dabei auch noch in den 1530er und 1540er Jahren die Nähe zu den italienischen Manuskripten aus der Zeit um 1500, z.B. zum Pesaro-Manuskript (I-PESo, Ms. 1144, hier im weiterem PES), das zwischen 1490 und 1500 entstand, und zur Thibault-Tabulatur (F-Pn, Rés. Vmd. ms. 27, hier im weiterem THIB), die um 1510 fertig geschrieben wurde.[47] Zu den Eigenschaften der präskriptiven, noch an die ex tempore Praktiken orientierten Notierung, gehört die Anwendung von syntaktischen, d.h. durch die Phrasierung bestimmten Taktstrichen, wie bei La traditora in der Tabulatur A-Wn Mus.Hs. 18827Notenbsp. La traditora; » Hörbsp. ♫ La traditora).

 

 

Weitere Hinweise decken spezielle aufführungspraktische Symbole auf. Die Forscher des PES berichten beispielsweise über „T“-Zeichen, welche Crawford Young als „tenute“-Zeichen (ausgehaltene Töne) interpretiert und mit Ausführungen aus dem Capirola-Lautenbuch (1515–1520, Venedig) begründet. Das Zeichen konnte in den italienischen Quellen in einer der Fermate ähnlichen Form oder ihrer Umkehrung vorkommen.[48] In der süddeutschen Tabulatur PL-WRk 352 findet sich sowohl dieses Zeichen als auch seine Variante, die „+“-Markierung. » Notenbsp. Paduaner (Proporz); » Hörbsp. ♫ Paduaner (Proporz).

 

 

In THIB werden dazu Gruppen von kleineren Werten oft mit Wellenlinien gekennzeichnet (THIB, fols. 13r, 14r).[49] Die analoge Praxis gibt A-Wn Mus. Hs. 18827 in Madonna tenerina, fol. 9r, wieder : » Notenbsp. Madonna tenerina (mit Wellenlinien).

 

 

Alternativ hierzu konnte dasselbe Stück in derselben Handschrift so notiert werden: » Notenbsp. Madonna tenerina (ohne Wellenlinien).

 

 

Diese Anzeichen der präskriptiven Notation ermöglichen es, eigene Netzwerke von Schreibern im süddeutschen Raum zu identifizieren. Dieselbe Art des Umgangs mit dem Notentext zeigen Madona katharina aus PL-WRk 352, fol. 39r (» Notenbsp. Madona katharina) und Matunna Katarina aus A-Wn Mus. Hs. 18688, fol. 23r–23v (» Abb. Matunna Katarina). Vgl. »  Hörbsp. ♫ Madona Katharina

 

 

 

Bei sonst detaillierter und sehr ähnlicher Schreibart haben die beiden Schreiber ausschließlich jene Taktstriche weggelassen, die eine größere Phrase mit Diminutionen umfassen, das heißt dort, wo die Schreiber den Satz freier gestalten konnten (z.B. durch andere Diminutionsformeln) und daher zur präskriptiven Notation übergingen (» Notenbsp. La Saltarella; » Hörbsp. ♫ La saltarella).

 

Notenbsp. La saltarella. Tabulaturhandschrift PL-WRk 352, fol. 67r.

Notenbsp. La saltarella. Tabulaturhandschrift  PL-WRk 352, fol. 67r.

© Biblioteka Kapitulna, Wrocław. Mit freundlicher Genehmigung. Transkription: Kateryna Schöning (originalgetreue Übertragung in der A-Stimmung; nur Zeile 1). » Hörbsp. ♫ La saltarella.

Der italienische Tanz Saltarella scheint auf den ersten Blick im Notenbild mit fehlerhaften Strichen in T. 2 und 5 versehen zu sein. Der Vergleich mit einer ähnlichen Variante dieses Stückes, „Coree Rosina“ aus A-Wn Mus. Hs. 18688 (Craus Lautentabulatur), fol. 5v–6r, (Notenbsp. Coree Rosina) zeigt jedoch eindeutig, dass der Schreiber aus Pl-WRk 352 mittels des Striches eine andere rhythmische Variante markierte und somit zwei mögliche Varianten zusammenstellte. Die im Hörbsp. ♫ La saltarella eingespielte Variante des Tanzes gilt somit als eines der Improvisationsmodelle, die schon in ihrer Niederschrift mindestens eine weitere Interpretationsmöglichkeit aufweisen.

 

Die Schreiber konnten in einem Notat mehrere Stegreifvarianten eines Stückes andeuten, ohne diese Varianten auszuschreiben. 

[47] Vgl. Ivanoff 1988Young 2003, 25-142. Das Faksimile der Handschrift PES ist komplett bei Young-Kirnbauer 2003, 25-127 abgedruckt. In der einzigen kompletten Edition von PES (Ivanoff 1988, Bd. II) sind die Abschriften des Faksimiles gegenüber der Transkription um eine Seite verschoben. Die Transkription enthält keine originalen Taktstriche und Ivanoffs Unterteilung in regelmäßige Takte ist nicht immer nachvollziehbar. Die Übertragung nach dem Faksimile hat zudem keine Folio-Angaben, nur lückenhafte Seitenzahlen. Einen kompletten Index des PES mit Folio- und Seitenangaben bietet Young-Kirnbauer 2003, 140f.

[48] Young 2003, 133.

[49] Vgl. Ivanoff 1988, 155-158.