Musikalische Besonderheiten
Die Lesart der Melodien des Antiphonarius zeichnet sich durch die häufige Präsenz von Auflösungs- und Erniedrigungszeichen aus (b durum bzw. b molle).[48] Wie üblich in den musikalisch-liturgischen Quellen dieser Epoche kommt kein Kreuz vor. Dies ist bereits auf fol. 1r plakativ dargestellt, indem im Schlussabschnitt einer kurzen Antiphon im achten Modus beide Akzidentien vorkommen (» Abb. Antiphonarius Winterburger, fol. 1r, drittletztes System auf „nobis clari-“). Auf manchen Seiten sind viele Vorzeichen vorhanden, beispielweise auf fol. 49r, wo sich acht Erniedrigungs- sowie zwei Auflösungszeichen finden (» Abb. Antiphonarius Winterburger, fol. 49r).
Vergleiche mit zeitgenössischen handschriftlichen und gedruckten Antiphonaren hauptsächlich aus dem geographischen Raum Schweiz-Süddeutschland-Österreich haben gezeigt, dass Versetzungszeichen, besonders Auflösungszeichen, im Antiphonarius öfter eingesetzt werden als in den herangezogenen Vergleichsquellen.[49] Dies deutet darauf hin, dass eine musikkundige Person an der Edition mitgearbeitet hat, denn es ist auszuschließen, dass bereits in den Vorlagen die Versetzungszeichen dermaßen oft vorkamen. Dieser Aspekt steht im Einklang mit der – auf Anhieb musterhaft und kommerziell-orientiert anmutenden – Angabe des Kolophons, dieses Druckwerk sei einer Korrektur unterzogen worden (» Kap. Die Paratexte). Ferner steht die Veröffentlichung korrekter und zuverlässiger Texte wohl mit dem für den Humanismus typischen Streben nach Vollkommenheit und Genauigkeit im Zusammenhang. Darüber hinaus versteht sich dies auch als ein Mittel zum Zweck: Je schöner, korrekter, lesbarer das Buch, desto größer die Chancen, es am Markt zu verkaufen.
Ein anderes Notationsphänomen prägt die melodische Lesart des Antiphonarius. Neben den Graphien Punctum und Virga wurde in den Liturgica dieser Epoche auch eine besondere Graphie der Einzeltonneume verwendet: Sie könnte wie ein Punctum mit einer Plica beschrieben werden, bzw. ein Punctum mit einer Cauda. Dieser „Punctum caudatum“ kann auch verdoppelt auftreten, oder in Kombination mit einem Punctum, der vorangeht. Letztgenannte Graphie des „Punctum duplex caudatum“ tritt im Antiphonarius als eigenständige Letter auf und wird im Folgenden „Spezialneume“ genannt.
Die Spezialneume kommt im Antiphonarius öfter vor als in anderen zeitgenössischen gedruckten Liturgica. Es handelt sich um ein und dieselbe Neume, die, abhängig von der Position innerhalb der Melodie, unterschiedliche Aufgaben übernehmen kann. Obwohl in manchen Fällen die Funktion dieses Zeichens unklar bleibt, oder ihm anscheinend keine besondere Bedeutung zugeschrieben werden kann, z.B. wenn es für die Notation einer Differentia[50] verwendet wird, ist es zumindest möglich, drei Bedeutungen der Spezialneume zu benennen. Erstens: Als Schlussnote stellt die Spezialneume lediglich eine graphische Verzierung dar. (Im Antiphonarius kommt sie nie als Anfangsnote vor; in den Handschriften ist diese Schlussnote manchmal reichlich verziert). Zweitens wird sie verwendet, um eine Doppelnote (Distropha oder Bivirga) zu bezeichnen. Drittens kann sie eine Liqueszenz (Schleifer) signalisieren. Letzgenanntes Phänomen hängt vom Text ab und stellt den häufigsten Fall dar. Auch dieser Aspekt der Notation bestätigt die Angabe des Kolophons bezüglich der Korrektur und „steht wahrscheinlich im Zusammenhang mit der humanistischen Beeinflussung des Wort-Ton-Verhältnisses im Gregorianischen Choral.“[51]
Aus dem Melodienvergleich resultiert außerdem, dass die Melodieüberlieferung des Antiphonarius am ehesten mit jener der Antiphonarhandschriften aus dem ehemaligen Kollegiatstift in Kirnberg an der Mank (Niederösterreich) vergleichbar ist,[52] deren Entstehung in Passau verortet wurde[53] – allerdings bestehen stets kleinere oder größere Diskrepanzen. Einerseits bestätigt dies, dass die Melodien des Antiphonarius der Tradition dieser geographischen Region bzw. dem kulturellen Umfeld Passaus angehören. Andererseits zeigt sich, dass die Herkunft der in der Offizin Winterburgers vorliegenden Vorlagen noch zu präzisieren ist, aber keinesfalls mit dem Domkapitel zu Passau übereinstimmen kann.
[48] Über die Melodienüberlieferung des Antiphonarius siehe Merlin 2016.
[49] Es handelt sich hauptsächlich um die Handschriften GB-WO F160; I-Lc 601; A-Wn Mus.Hs.15505 und A-Wda D-4 sowie um folgende Ausgaben: Basel: Wennsler 1488, » vdm 1427 und » vdm 1428; Augsburg: Ratdolt 1495, » vdm 1084; Basel: Wolff von Pforzheim 1511, » vdm 721.
[50] Die Kadenz eines Psalmtones.
[51] Schlager 1985, S. 7. Schlager meint eigentlich damit, dass es Aufmerksamkeit auf die Positionierung der Melismen auf die betonte Silbe des Wortes gegeben sei, was erst durch weitere Studien zu bestätigen ist.
[52] Heute im Erzbischöfichen Diözesanarchiv zu Wien mit den Signaturen D-4 (Vesperale), C-11 (Nocturnale Winterteil) und C-10 (Nocturnale Sommerteil) aufbewahrt. Darüber siehe Kluger/Klugseder 2016 sowie die Schlussarbeiten Ho 1997, Kam 1996 und Kam 2000. Diese Handschriften sind in der online-Datenbank Cantus Index eingetragen (<http://cantusindex.org>).
[53] Vgl. Kluger/Klugseder 2016, besonders S. 5–8.
[1] Eine Auflistung der Antiphonarausgaben in ganz Europa bis 1530 befindet sich in Merlin 2012c, S. 269; Erweiterungen in Merlin 2014.
[2] Wie gering die Anzahl an heute erhaltenen Quellen für die Melodien des Stundengebets aus dem 15. und 16. Jahrhundert ist, zeigt sich am Beispiel der online-Datenbank des Projektes Musikalische Quellen des Mittelalters in der Österreichischen Nationalbibliothek (<http://www.cantusplanus.at/de-at/projektphp/index.php>).
[3] Dolch 1913, S. 95 (Nr. 103).
[4] Schlager 1985. Diese Faksimilierung ist schwarz-weiß, merklich verkleinert und mit einem konzisen, aber sehr informativen Vorwort versehen.
[6] Siehe die online-Datenbanken: VDM. Verzeichnis deutscher Musikfrühdrucke (<http://www.vdm.sbg.ac.at/db/music_prints.php?content=project_introduction&menu=0>; dort mit der Katalognummer: vdm 4; siehe auch Tabelle 1 in vorliegendem Beitrag); VD 16. Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (<https://opacplus.bib-bvb.de/TouchPoint_touchpoint/start.do?SearchProfile=Altbestand&SearchType=2>; dort mit der Katalognummer: VD16 A 2946).
[7] Digitalisat des Exemplars D-Mbs Res/2 Liturg. 11 e: <http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0008/bsb00080050/images/>.
[8] Über Winterburger: Mayer 1883, S. 21–30; Mayer 1887, S. 392–394; Franck 1898; Dolch 1913, S. 14–32; Lang 1972, S. 47–48; Benzing 1982, S. 485; Rausch 2006; Lodes 2007; Reske 2015, S. 1047–1048. Winterburgers Bibliographie: Dolch 1913, S. 33–142 (Ergänzungen in Borsa 1956 und Borsa 1962).
[9] Vgl. Dolch 1913, S. 1–13.
[10] Dies wird bei der Konsultation der interaktiven Landkarten auf der Webseite des an der Universität Salzburg angesiedelten Projektes VDM Verzeichnis deutscher Musikfrühdrucke besonders offensichtlich: <http://www.vdm.sbg.ac.at/db/music_prints.php?content=mapping&menu=2>. Die Tätigkeit des Buchdruckers Petri in Passau (ca. 1489–ca. 1492) wird in den Landkarten erst mit zukünftigen Aktualisierungen sichtbar sein (voraussichtlich Herbst 2019; ich bedanke mich bei Andrea Lindmayr-Brandl für diese Information, E-Mail vom 04.12.2018).
[11] Dolch 1913, S. 14.
[12] Dolch 1913, S. 16.
[13] Dolch 1913, S. 18.
[14] Dolch 1913, S. 17–18.
[15] Für drei Beispiele von Liturgica Winterburgers ohne Vermerk der geographisch-liturgischen Bestimmung siehe Merlin 2012c, S. 268.
[16] In Ritter 1882 nachgedruckt.
[17] Katalognummer in Dolch 1913.
[18] Katalognummer der online-Datenbank VDM Verzeichnis deutscher Musikfrühdrucke (<http://www.vdm16.sbg.ac.at/db/music_prints.php>).
[19] Zyklus der Herrenfeste, mit mobilem Datum (abgesehen von Weihnachten), das von Ostern abhängt.
[20] Zyklus der Marien- und Heiligenfeste, mit fixem Datum.
[21] Vgl. Dolch 1913, S. 25. Information über Winterburgers Buchschmuck kann den Arbeiten von Hedwig Gollob und Maria Magdalena Zykan entnommen werden (nicht alle diese Texte entsprechen dem heutigen wissenschaftlichen Standard).
[22] D-Mbs, 2º Liturg.11e und A-Wn, Mus MS 4280-2° (unvollständig).
[23] Robert Klugseder, dem ich für diese Information zu Dank verpflichtet bin, fand diese Fragmente im Februar 2015. Bezüglich derer schrieb er: „Sie dienen als Fragmenteinband für ein Trauungsbuch der Pfarrei Haus im Ennstal (bei Schladming, heute im Diözesanarchiv Graz).“ (E-Mail vom 25.02.2015)
[24] Dolch 1913, S. 31–32.
[25] Für eine akkuratere Betrachtung des Kolophons sowie dessen Gegenüberstellung mit jenem des von Winterburger 1511 gedruckten Graduale Pataviense siehe Merlin 2012c, S. 270–271.
[26] Vgl. Huglo 1996, S. 1419–1421; Huglo/Hiley 2001, S. 749; Giacomo Baroffio, Dizionario liturgico, <http://www.hymnos.sardegna.it/iter/pdf/2_Dizionario/b%20DIZIONARIO%20LITURGICO.pdf>, S. 12.
[27] Auch die online-Datenbank VDM und die Österreichische Nationalbibliothek verwenden die Benennung „Antiphonarius“.
[28] Vgl. C. W. Gerhardt, “Chalcographie”, in Lexikon des gesamten Buchwesens Online (2017).
[29] Vgl. Maschek 1936.
[30] Die Gebetszeiten Prim (ca. 7 Uhr), Terz (ca. 9 Uhr), Sext (ca. Mittag), Non (ca. 15 Uhr) und Completorium (vor der Nachtruhe).
[31] Schlager 1985, S. 5; vgl. den Eintrag in der online-Datenbank VDM (Katalognummer: vdm 4).
[32] Schlager 1985, S. 6.
[33] Karnowka 1983, S. 22.
[34] Räumliche Übertragung der Gebeine.
[35] Über die Offizien für den hl. Leopold siehe auch Merlin 2011 und Merlin 2012a.
[36] Im Rahmen der Benediktiner-Reform von Subiaco-Melk wurde u.a. die Liturgie des Stundengebets umgestellt: vom ursprünglichen für die Benediktiner typischen cursus monasticus zum für Bettelorden und Diözesanklerus typischen cursus saecularis. Darüber siehe Angerer 1974 und Klugseder 2012.
[37] Vgl. Weissensteiner 2017, Schragl 2017 und Niederstätter 2004, S. 307–308 (geographische Karte auf S. 301).
[38] Weissensteiner 2017, Sp. 1156.
[39] Eine 1486 datiertes Graduale für Wiener Neustadt befindet sich als Depositum des Neuklosters von Wiener Neustadt im Stift Heiligenkreuz: vgl. » K. Kap. Choralquellen und Tr 93-1.
[42] Vgl. Karnowka 1983, S. 45–46.
[43] Vgl. Merlin [in Vorbereitung].
[44] Lauf 2010, S. 24. Über die Möglichkeit von einer Mischtradition siehe auch Roland 2003, S. 123–130.
[46] Vgl. Lauf 2014, S. 94: „Auf Grund der drei Handschriften und der fünf Fragmentengruppen können wir mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, dass es in Wien und seiner Umgebung noch vor der Gründung einer selbständigen Wiener Diözese im Jahre 1469 eine selbständige Variante des Passauer Ritus gab, der auch Elemente der ungarischen liturgischen Kultur zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Regionen aufgenommen hat“.
[47] Private Mitteilung (E-Mail vom 25.02.2015).
[48] Über die Melodienüberlieferung des Antiphonarius siehe Merlin 2016.
[49] Es handelt sich hauptsächlich um die Handschriften GB-WO F160; I-Lc 601; A-Wn Mus.Hs.15505 und A-Wda D-4 sowie um folgende Ausgaben: Basel: Wennsler 1488, » vdm 1427 und » vdm 1428; Augsburg: Ratdolt 1495, » vdm 1084; Basel: Wolff von Pforzheim 1511, » vdm 721.
[50] Die Kadenz eines Psalmtones.
[51] Schlager 1985, S. 7. Schlager meint eigentlich damit, dass es Aufmerksamkeit auf die Positionierung der Melismen auf die betonte Silbe des Wortes gegeben sei, was erst durch weitere Studien zu bestätigen ist.
[52] Heute im Erzbischöfichen Diözesanarchiv zu Wien mit den Signaturen D-4 (Vesperale), C-11 (Nocturnale Winterteil) und C-10 (Nocturnale Sommerteil) aufbewahrt. Darüber siehe Kluger/Klugseder 2016 sowie die Schlussarbeiten Ho 1997, Kam 1996 und Kam 2000. Diese Handschriften sind in der online-Datenbank Cantus Index eingetragen (<http://cantusindex.org>).
[53] Vgl. Kluger/Klugseder 2016, besonders S. 5–8.
[54] Vgl. Merlin [2019].
[55] Die Tonaufnahme des Invitatoriums von Weihnachten „Christus natus est nobis“ aus dem Antiphonarius ist in der 1996 erschienenen CD „Maria, keusche mutter zart. Advent und Weihnachten im mittelalterlichen Salzburg mit Liedern des Mönch von Salzburg und Gesängen aus alten Codices“ der Salzburger Virgilschola unter der Leitung von Stefan Engels verfügbar. Für diese Information bedanke ich mich bei Stefan Engels (E-Mail vom 03.12.2018). Über diese CD siehe Jerome F. Weber, “Recordings. Recent releases of plainchant”, in Plainsong and Medieval Music 8/2 (1999), S. 167–175.
Empfohlene Zitierweise:
David Merlin: „Johannes Winterburgers Antiphonarius, 1519“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/johannes-winterburgers-antiphonarius-1519> (2019).