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Musikalische Besonderheiten

David Merlin

Die Lesart der Melodien des Antiphonarius zeichnet sich durch die häufige Präsenz von Auflösungs- und Erniedrigungszeichen aus (b durum bzw. b molle).[48] Wie üblich in den musikalisch-liturgischen Quellen dieser Epoche kommt kein Kreuz vor. Dies ist bereits auf fol. 1r plakativ dargestellt, indem im Schlussabschnitt einer kurzen Antiphon im achten Modus beide Akzidentien vorkommen (» Abb. Antiphonarius Winterburger, fol. 1r, drittletztes System auf „nobis clari-“). Auf manchen Seiten sind viele Vorzeichen vorhanden, beispielweise auf fol. 49r, wo sich acht Erniedrigungs- sowie zwei Auflösungszeichen finden (» Abb. Antiphonarius Winterburger, fol. 49r).

 

 

Vergleiche mit zeitgenössischen handschriftlichen und gedruckten Antiphonaren hauptsächlich aus dem geographischen Raum Schweiz-Süddeutschland-Österreich haben gezeigt, dass Versetzungszeichen, besonders Auflösungszeichen, im Antiphonarius öfter eingesetzt werden als in den herangezogenen Vergleichsquellen.[49] Dies deutet darauf hin, dass eine musikkundige Person an der Edition mitgearbeitet hat, denn es ist auszuschließen, dass bereits in den Vorlagen die Versetzungszeichen dermaßen oft vorkamen. Dieser Aspekt steht im Einklang mit der – auf Anhieb musterhaft und kommerziell-orientiert anmutenden – Angabe des Kolophons, dieses Druckwerk sei einer Korrektur unterzogen worden (» Kap. Die Paratexte). Ferner steht die Veröffentlichung korrekter und zuverlässiger Texte wohl mit dem für den Humanismus typischen Streben nach Vollkommenheit und Genauigkeit im Zusammenhang. Darüber hinaus versteht sich dies auch als ein Mittel zum Zweck: Je schöner, korrekter, lesbarer das Buch, desto größer die Chancen, es am Markt zu verkaufen.

Ein anderes Notationsphänomen prägt die melodische Lesart des Antiphonarius. Neben den Graphien Punctum und Virga wurde in den Liturgica dieser Epoche auch eine besondere Graphie der Einzeltonneume verwendet: Sie könnte wie ein Punctum mit einer Plica beschrieben werden, bzw. ein Punctum mit einer Cauda. Dieser „Punctum caudatum“ kann auch verdoppelt auftreten, oder in Kombination mit einem Punctum, der vorangeht. Letztgenannte Graphie des „Punctum duplex caudatum“ tritt im Antiphonarius als eigenständige Letter auf und wird im Folgenden „Spezialneume“ genannt.

Die Spezialneume kommt im Antiphonarius öfter vor als in anderen zeitgenössischen gedruckten Liturgica. Es handelt sich um ein und dieselbe Neume, die, abhängig von der Position innerhalb der Melodie, unterschiedliche Aufgaben übernehmen kann. Obwohl in manchen Fällen die Funktion dieses Zeichens unklar bleibt, oder ihm anscheinend keine besondere Bedeutung zugeschrieben werden kann, z.B. wenn es für die Notation einer Differentia[50] verwendet wird, ist es zumindest möglich, drei Bedeutungen der Spezialneume zu benennen. Erstens: Als Schlussnote stellt die Spezialneume lediglich eine graphische Verzierung dar. (Im Antiphonarius kommt sie nie als Anfangsnote vor; in den Handschriften ist diese Schlussnote manchmal reichlich verziert). Zweitens wird sie verwendet, um eine Doppelnote (Distropha oder Bivirga) zu bezeichnen. Drittens kann sie eine Liqueszenz (Schleifer) signalisieren. Letzgenanntes Phänomen hängt vom Text ab und stellt den häufigsten Fall dar. Auch dieser Aspekt der Notation bestätigt die Angabe des Kolophons bezüglich der Korrektur und „steht wahrscheinlich im Zusammenhang mit der humanistischen Beeinflussung des Wort-Ton-Verhältnisses im Gregorianischen Choral.“[51]

Aus dem Melodienvergleich resultiert außerdem, dass die Melodieüberlieferung des Antiphonarius am ehesten mit jener der Antiphonarhandschriften aus dem ehemaligen Kollegiatstift in Kirnberg an der Mank (Niederösterreich) vergleichbar ist,[52] deren Entstehung in Passau verortet wurde[53] – allerdings bestehen stets kleinere oder größere Diskrepanzen. Einerseits bestätigt dies, dass die Melodien des Antiphonarius der Tradition dieser geographischen Region bzw. dem kulturellen Umfeld Passaus angehören. Andererseits zeigt sich, dass die Herkunft der in der Offizin Winterburgers vorliegenden Vorlagen noch zu präzisieren ist, aber keinesfalls mit dem Domkapitel zu Passau übereinstimmen kann.

[48] Über die Melodienüberlieferung des Antiphonarius siehe Merlin 2016.

[49] Es handelt sich hauptsächlich um die Handschriften GB-WO F160; I-Lc 601; A-Wn Mus.Hs.15505 und A-Wda D-4 sowie um folgende Ausgaben: Basel: Wennsler 1488, » vdm 1427 und » vdm 1428; Augsburg: Ratdolt 1495, » vdm 1084; Basel: Wolff von Pforzheim 1511, » vdm 721.

[50] Die Kadenz eines Psalmtones.

[51] Schlager 1985, S. 7. Schlager meint eigentlich damit, dass es Aufmerksamkeit auf die Positionierung der Melismen auf die betonte Silbe des Wortes gegeben sei, was erst durch weitere Studien zu bestätigen ist.

[52] Heute im Erzbischöfichen Diözesanarchiv zu Wien mit den Signaturen D-4 (Vesperale), C-11 (Nocturnale Winterteil) und C-10 (Nocturnale Sommerteil) aufbewahrt. Darüber siehe Kluger/Klugseder 2016 sowie die Schlussarbeiten Ho 1997Kam 1996 und Kam 2000. Diese Handschriften sind in der online-Datenbank Cantus Index eingetragen (<http://cantusindex.org>).

[53] Vgl. Kluger/Klugseder 2016, besonders S. 5–8.