Kirchliche Zuordnung
Auf Grund der Gestaltung der Matutin – der im Antiphonarius niedergeschriebene Gesangsteil für eine Nokturn besteht aus drei Antiphonen und drei Responsorien – und jener der Vesper (mit fünf Psalm-Antiphonen), die dem cursus saecularis der Stundengebetsliturgie entsprechen, sowie anhand der Zusammensetzung des Sanktorale lässt sich die Verwendung des Antiphonarius seitens der monastischen Orden, der Bettelorden sowie der reformierten Benediktiner Melker Kongregation ausschließen.[36] Es fehlen die Feste der Ordensgründer oder der jeweils zugehörigen Ordensheiligen, bzw. diese werden lediglich in Rubriken erwähnt und ihre Feste sind nicht mit eigenen Gesängen (Proprien) bedacht.
Winterburgers Antiphonarius scheint offensichtlich für die Diözesanliturgie gedacht zu sein. Er entbehrt eindeutiger Elemente zur geographischen Lokalisierung, wie die Responsorien der Matutin für die vier Adventssonntage und für die Quatembertage des Advents sowie jene des Totenoffiziums. Ferner enthält er kein Kalendarium. Die Zuordnung Schlagers zur Diözese Passau – die sich sogar in der üblich gewordenen Benennung für dieses Druckwerk widerspiegelt (Antiphonale Pataviense), welche aber erst seit der Faksimile-Ausgabe existiert – ist zwar nicht falsch, aber verbesserungsbedürftig, oder besser: erweiterungsbedürftig.
Ein Blick auf die Geschichte der kirchlichen Institutionen in diesem geographischen Großgebiet sowie auf andere Inhaltselemente des Antiphonarius können dazu beitragen, seine Lokalisierung zu präzisieren. Wien und Wiener Neustadt wurden 1469 zu eigenständigen Diözesen erklärt (durchgesetzt wurde dies allerdings erst im Jahr 1480).[37] Sie wurden aus der Diözese Passau bzw. aus dem Erzbistum Salzburg herausgetrennt. Die Diözese Wiener Neustadt umfasste nur die Stadtpfarre, die Diözese Wien hingegen siebzehn Pfarreien; sie wurde „bis 1513 von Administratoren versehen. Erst mit Georg von Slatkonia, dem Kapellmeister der kaiserlichen Hofkapelle, erhielt Wien seinen ersten Residentialbischof.“[38] Es ist unwahrscheinlich, dass diese beiden sogenannten Hofbistümer über einen regelrechten eigenen liturgischen Usus verfügten; inwieweit Abweichungen vom Passauer Usus vorhanden waren, bedarf noch weiterer Untersuchungen. Diese neuen Diözesen dürfen jedoch als Bestimmungsorte für den Verkauf des Antiphonarius nicht ausgeschlossen werden (allerdings ist der Bedarf an neuen liturgischen Büchern in Wiener Neustadt nicht zu überschätzen).[39]
Alle damals an diese Region angrenzenden oder benachbarten Bistümer kommen hingegen aus liturgischen Gründen als Bestimmungsorte des Antiphonarius nicht in Frage: Gran/Esztergom, Olmütz/Olomouc, Prag/Praha, Raab/Győr, Salzburg und das Patriarchat Aquileia sowie die Bistümer der Salzburger Kirchenprovinz Brixen, Freising und Regensburg – und auch nicht die Salzburger Eigenbistümer Chiemsee, Gurk, Lavantal und Seckau.[40]
Der Inhalt des Antiphonarius stimmt größtenteils mit dem Passauer Usus überein. Manche Elemente, wie z.B. die Präsenz des hl. Severinus (von Norikum) am 5. Januar, des hl. Valentin (Bischof) am 7. Januar,[41] der Translation des Hauptes des hl. Vigilius (von Trient) am 31. Januar, der Translation des hl. Leopold am 15. Februar und weitere „diözesaneigene Feste“[42] bestätigen die Lokalisierung nach Passau.
Andere Elemente, wie die Diskrepanz zwischen der Positionierung der Rubrik und jener des Formulars für das Fest der Verklärung des Herrn, das Vorhandensein bzw. das Fehlen von Heiligenfesten, die normalerweise dem Passauer Kalender nicht angehören bzw. dessen Bestandteil sind, sowie kleine aber deutliche Unterschiede[43] zur in den Diözesanbrevieren gedruckten, offiziellen Fassung der Passauer Liturgie (» F. Lokalheilige, Kap. Hl. Stephan, hl. Barbara und hl. Ursula) unterstützen folgende Arbeitshypothese: Der geographische Raum, für welchen der Antiphonarius gedacht war, stimmt nicht mit der Diözese Passau exakt überein, sondern er muss entweder (auf das Territorium des damaligen Österreichs unter der Enns?) verringert, oder – und das ist wahrscheinlicher – (mindestens?) durch die kleinen Bistümer Wien und Wiener Neustadt erweitert werden.
Über handschriftliche Liturgica, die anscheinend in einem Grenzbereich zwischen Österreich und Ungarn (Ödenburg/Sopron) zum Einsatz kamen und/oder aus dem Wiener Raum stammen, sind Pionierarbeiten durchgeführt worden, die auf eine Hybridisierung des liturgischen Passauer Usus hinweisen. Es handelt sich um eine Gruppe von Quellen (insbesondere um eine Missale-Fragmentenreihe, dazu kommen noch drei Messbücher), die „an der Trennlinie zwischen Passauer und ungarischer liturgischer Praxis entstand“[44] und „mit deren Hilfe eine der Forschung früher unbekannte, eigenständige Wiener Variante des Passauer Ritus rekonstruierbar wurde (in dieser Wiener Variante schlug sich mit unterschiedlicher Prägnanz auch der Kult der ungarischen Heiligen nieder).“[45] Folglich sollte die Hypothese von einer oder mehreren Mischtraditionen, d.h. von einigen nicht rein passauischen, sondern „ungarisch-Passauischen“, „ostpassauischen“ (vielleicht „Österreich unter der Enns-Passauischen“) oder gar „Wiener-Passauischen“ Überlieferungssträngen des städtischen oder domkirchlichen Passauer Usus nicht ausgeschlossen werden.[46] Da die Präsenz von Heiligen ungarischer Tradition innerhalb des Antiphonarius nicht prägend ist, müsste es sich eventuell um eine weitere Variante handeln.
Darüber hinaus ist nach Robert Klugseder die Entdeckung der Makulaturen des Antiphonarius (» Kap. Beschreibung des Antiphonarius) „ein konkreter Hinweis auf die Verwendung des Buches in einer Pfarrei, noch dazu in der Erzdiözese Salzburg.“[47] Die Frage nach dem tatsächlichen geographischen Gebiet, in dem der Antiphonarius zur Anwendung kam bzw. kommen konnte, und die Frage, welcher Fassung der Passauer Tradition Winterburgers Antiphonarius angehört, verdienen weitere Untersuchungen. Er kann allerdings nicht ausschließlich mit der Diözese Passau bzw. mit der Passauer Domliturgie übereinstimmen.
[36] Im Rahmen der Benediktiner-Reform von Subiaco-Melk wurde u.a. die Liturgie des Stundengebets umgestellt: vom ursprünglichen für die Benediktiner typischen cursus monasticus zum für Bettelorden und Diözesanklerus typischen cursus saecularis. Darüber siehe Angerer 1974 und Klugseder 2012.
[37] Vgl. Weissensteiner 2017, Schragl 2017 und Niederstätter 2004, S. 307–308 (geographische Karte auf S. 301).
[38] Weissensteiner 2017, Sp. 1156.
[39] Eine 1486 datiertes Graduale für Wiener Neustadt befindet sich als Depositum des Neuklosters von Wiener Neustadt im Stift Heiligenkreuz: vgl. » K. Kap. Choralquellen und Tr 93-1.
[40] Vgl. » F. Lokalheilige, Kap. Heiligenverehrung im österreichischen Raum.
[41] » F. Lokalheilige, Kap. Dürers „Österreichische Heilige“.
[42] Vgl. Karnowka 1983, S. 45–46.
[43] Vgl. Merlin [in Vorbereitung].
[44] Lauf 2010, S. 24. Über die Möglichkeit von einer Mischtradition siehe auch Roland 2003, S. 123–130.
[46] Vgl. Lauf 2014, S. 94: „Auf Grund der drei Handschriften und der fünf Fragmentengruppen können wir mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, dass es in Wien und seiner Umgebung noch vor der Gründung einer selbständigen Wiener Diözese im Jahre 1469 eine selbständige Variante des Passauer Ritus gab, der auch Elemente der ungarischen liturgischen Kultur zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Regionen aufgenommen hat“.
[47] Private Mitteilung (E-Mail vom 25.02.2015).
[1] Eine Auflistung der Antiphonarausgaben in ganz Europa bis 1530 befindet sich in Merlin 2012c, S. 269; Erweiterungen in Merlin 2014.
[2] Wie gering die Anzahl an heute erhaltenen Quellen für die Melodien des Stundengebets aus dem 15. und 16. Jahrhundert ist, zeigt sich am Beispiel der online-Datenbank des Projektes Musikalische Quellen des Mittelalters in der Österreichischen Nationalbibliothek (<http://www.cantusplanus.at/de-at/projektphp/index.php>).
[3] Dolch 1913, S. 95 (Nr. 103).
[4] Schlager 1985. Diese Faksimilierung ist schwarz-weiß, merklich verkleinert und mit einem konzisen, aber sehr informativen Vorwort versehen.
[6] Siehe die online-Datenbanken: VDM. Verzeichnis deutscher Musikfrühdrucke (<http://www.vdm.sbg.ac.at/db/music_prints.php?content=project_introduction&menu=0>; dort mit der Katalognummer: vdm 4; siehe auch Tabelle 1 in vorliegendem Beitrag); VD 16. Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (<https://opacplus.bib-bvb.de/TouchPoint_touchpoint/start.do?SearchProfile=Altbestand&SearchType=2>; dort mit der Katalognummer: VD16 A 2946).
[7] Digitalisat des Exemplars D-Mbs Res/2 Liturg. 11 e: <http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0008/bsb00080050/images/>.
[8] Über Winterburger: Mayer 1883, S. 21–30; Mayer 1887, S. 392–394; Franck 1898; Dolch 1913, S. 14–32; Lang 1972, S. 47–48; Benzing 1982, S. 485; Rausch 2006; Lodes 2007; Reske 2015, S. 1047–1048. Winterburgers Bibliographie: Dolch 1913, S. 33–142 (Ergänzungen in Borsa 1956 und Borsa 1962).
[9] Vgl. Dolch 1913, S. 1–13.
[10] Dies wird bei der Konsultation der interaktiven Landkarten auf der Webseite des an der Universität Salzburg angesiedelten Projektes VDM Verzeichnis deutscher Musikfrühdrucke besonders offensichtlich: <http://www.vdm.sbg.ac.at/db/music_prints.php?content=mapping&menu=2>. Die Tätigkeit des Buchdruckers Petri in Passau (ca. 1489–ca. 1492) wird in den Landkarten erst mit zukünftigen Aktualisierungen sichtbar sein (voraussichtlich Herbst 2019; ich bedanke mich bei Andrea Lindmayr-Brandl für diese Information, E-Mail vom 04.12.2018).
[11] Dolch 1913, S. 14.
[12] Dolch 1913, S. 16.
[13] Dolch 1913, S. 18.
[14] Dolch 1913, S. 17–18.
[15] Für drei Beispiele von Liturgica Winterburgers ohne Vermerk der geographisch-liturgischen Bestimmung siehe Merlin 2012c, S. 268.
[16] In Ritter 1882 nachgedruckt.
[17] Katalognummer in Dolch 1913.
[18] Katalognummer der online-Datenbank VDM Verzeichnis deutscher Musikfrühdrucke (<http://www.vdm16.sbg.ac.at/db/music_prints.php>).
[19] Zyklus der Herrenfeste, mit mobilem Datum (abgesehen von Weihnachten), das von Ostern abhängt.
[20] Zyklus der Marien- und Heiligenfeste, mit fixem Datum.
[21] Vgl. Dolch 1913, S. 25. Information über Winterburgers Buchschmuck kann den Arbeiten von Hedwig Gollob und Maria Magdalena Zykan entnommen werden (nicht alle diese Texte entsprechen dem heutigen wissenschaftlichen Standard).
[22] D-Mbs, 2º Liturg.11e und A-Wn, Mus MS 4280-2° (unvollständig).
[23] Robert Klugseder, dem ich für diese Information zu Dank verpflichtet bin, fand diese Fragmente im Februar 2015. Bezüglich derer schrieb er: „Sie dienen als Fragmenteinband für ein Trauungsbuch der Pfarrei Haus im Ennstal (bei Schladming, heute im Diözesanarchiv Graz).“ (E-Mail vom 25.02.2015)
[24] Dolch 1913, S. 31–32.
[25] Für eine akkuratere Betrachtung des Kolophons sowie dessen Gegenüberstellung mit jenem des von Winterburger 1511 gedruckten Graduale Pataviense siehe Merlin 2012c, S. 270–271.
[26] Vgl. Huglo 1996, S. 1419–1421; Huglo/Hiley 2001, S. 749; Giacomo Baroffio, Dizionario liturgico, <http://www.hymnos.sardegna.it/iter/pdf/2_Dizionario/b%20DIZIONARIO%20LITURGICO.pdf>, S. 12.
[27] Auch die online-Datenbank VDM und die Österreichische Nationalbibliothek verwenden die Benennung „Antiphonarius“.
[28] Vgl. C. W. Gerhardt, “Chalcographie”, in Lexikon des gesamten Buchwesens Online (2017).
[29] Vgl. Maschek 1936.
[30] Die Gebetszeiten Prim (ca. 7 Uhr), Terz (ca. 9 Uhr), Sext (ca. Mittag), Non (ca. 15 Uhr) und Completorium (vor der Nachtruhe).
[31] Schlager 1985, S. 5; vgl. den Eintrag in der online-Datenbank VDM (Katalognummer: vdm 4).
[32] Schlager 1985, S. 6.
[33] Karnowka 1983, S. 22.
[34] Räumliche Übertragung der Gebeine.
[35] Über die Offizien für den hl. Leopold siehe auch Merlin 2011 und Merlin 2012a.
[36] Im Rahmen der Benediktiner-Reform von Subiaco-Melk wurde u.a. die Liturgie des Stundengebets umgestellt: vom ursprünglichen für die Benediktiner typischen cursus monasticus zum für Bettelorden und Diözesanklerus typischen cursus saecularis. Darüber siehe Angerer 1974 und Klugseder 2012.
[37] Vgl. Weissensteiner 2017, Schragl 2017 und Niederstätter 2004, S. 307–308 (geographische Karte auf S. 301).
[38] Weissensteiner 2017, Sp. 1156.
[39] Eine 1486 datiertes Graduale für Wiener Neustadt befindet sich als Depositum des Neuklosters von Wiener Neustadt im Stift Heiligenkreuz: vgl. » K. Kap. Choralquellen und Tr 93-1.
[42] Vgl. Karnowka 1983, S. 45–46.
[43] Vgl. Merlin [in Vorbereitung].
[44] Lauf 2010, S. 24. Über die Möglichkeit von einer Mischtradition siehe auch Roland 2003, S. 123–130.
[46] Vgl. Lauf 2014, S. 94: „Auf Grund der drei Handschriften und der fünf Fragmentengruppen können wir mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, dass es in Wien und seiner Umgebung noch vor der Gründung einer selbständigen Wiener Diözese im Jahre 1469 eine selbständige Variante des Passauer Ritus gab, der auch Elemente der ungarischen liturgischen Kultur zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Regionen aufgenommen hat“.
[47] Private Mitteilung (E-Mail vom 25.02.2015).
[48] Über die Melodienüberlieferung des Antiphonarius siehe Merlin 2016.
[49] Es handelt sich hauptsächlich um die Handschriften GB-WO F160; I-Lc 601; A-Wn Mus.Hs.15505 und A-Wda D-4 sowie um folgende Ausgaben: Basel: Wennsler 1488, » vdm 1427 und » vdm 1428; Augsburg: Ratdolt 1495, » vdm 1084; Basel: Wolff von Pforzheim 1511, » vdm 721.
[50] Die Kadenz eines Psalmtones.
[51] Schlager 1985, S. 7. Schlager meint eigentlich damit, dass es Aufmerksamkeit auf die Positionierung der Melismen auf die betonte Silbe des Wortes gegeben sei, was erst durch weitere Studien zu bestätigen ist.
[52] Heute im Erzbischöfichen Diözesanarchiv zu Wien mit den Signaturen D-4 (Vesperale), C-11 (Nocturnale Winterteil) und C-10 (Nocturnale Sommerteil) aufbewahrt. Darüber siehe Kluger/Klugseder 2016 sowie die Schlussarbeiten Ho 1997, Kam 1996 und Kam 2000. Diese Handschriften sind in der online-Datenbank Cantus Index eingetragen (<http://cantusindex.org>).
[53] Vgl. Kluger/Klugseder 2016, besonders S. 5–8.
[54] Vgl. Merlin [2019].
[55] Die Tonaufnahme des Invitatoriums von Weihnachten „Christus natus est nobis“ aus dem Antiphonarius ist in der 1996 erschienenen CD „Maria, keusche mutter zart. Advent und Weihnachten im mittelalterlichen Salzburg mit Liedern des Mönch von Salzburg und Gesängen aus alten Codices“ der Salzburger Virgilschola unter der Leitung von Stefan Engels verfügbar. Für diese Information bedanke ich mich bei Stefan Engels (E-Mail vom 03.12.2018). Über diese CD siehe Jerome F. Weber, “Recordings. Recent releases of plainchant”, in Plainsong and Medieval Music 8/2 (1999), S. 167–175.
Empfohlene Zitierweise:
David Merlin: „Johannes Winterburgers Antiphonarius, 1519“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/johannes-winterburgers-antiphonarius-1519> (2019).