Die geistlichen Lieder
Grundlage der geistlichen Kompositionen des Mönchs von Salzburg ist die Salzburger diözesane Liturgie des Mittelalters. Seine geistlichen Gesänge lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Gesänge, deren Melodien von Hymnen und Sequenzen des mittelalterlichen Chorals übernommen sind, mit wörtlicher oder freier Übersetzung oder auch als Kontrafaktur auf einen neuen Text, und Lieder mit freien Melodien. Thematisch sind die Mehrzahl der Lieder Marienlieder. 21 Lieder sind Sequenzen, davon ist nur eine (G 1) eine Neukomposition, sechs sind Kontrafakturen, alle diese sind Marienlieder. 13 Lieder sind Übertragungen von lateinischen Hymnen. 15 Lieder verwenden eine Kanzonenstrophe (Barform: Stollen – Gegenstollen – Abgesang: AAB), die als „Ton“ bezeichnet wird, also ein Melodiemodell, wie es die Minnesänger und Meistersinger benützt haben. Vier der Töne hat der Mönch mehrfach benützt. Zwei der Töne, der „Lange Ton“ und die „Chorweise“, erhielten sich in der Tradition der Meistersinger.[31] Drei Lieder sind einfache Strophenlieder: Joseph, lieber nefe mein (G22) (» A. Weihnachtsgesänge), Eia der grossen liebe (G 24 ) (» A. Osterfeier) und der Tischsegen (G 42: » Hörbsp. ♫ Tenor - Benedicite). [32] Lediglich ein Lied, nämlich O Maria pia (G 9), ist eine lateinische Übertragung eines deutschen Liedes im sogenannten Barantton.[33] In der Handschrift K heißt es dazu auf fol. 38v: „Als her Peter von Sahsen dem Münch von Salzburg diß vorgeschriben par schicket, da schicket er ime diß nachgende latinisch par her widerumb in dem selben tone.“[34] Vgl. Hörbsp. ♫ O Maria pya, Notenbsp. Maria gnuchtig/O Maria pya. Zwei anderen Liedern liegt die Sequenz Salve mater salvatoris zugrunde: G 7 (wörtlich) und G 8 (sinngemäß).
Die Lieder berücksichtigen in der Tat alle wichtigen Feste des Kirchenjahres, sodass manche Forscher an ein bewusst projektiertes geistliches Liederbuch gedacht haben.[35] Gesänge in deutscher Sprache waren ja keineswegs unbekannt und nahmen im Gottesdienst am Ende des Mittelalters in Salzburg durchaus einen wichtigen Platz ein (» A. Osterfeier). Dies geht auch aus liturgischen Büchern aus Salzburg hervor, die aus Nonnenklöstern stammen. Die Rubriken zu manchen Gesängen des Mönchs, wie zu Kunig Christe G 27 (» A. Osterfeier), legen sogar eine Verwendung im Gottesdienst nahe. Dagegen spricht bei anderen Gesängen allerdings deren teilweise raffinierte künstlerische Ausgestaltung, die sie für einen Gebrauch in der Liturgie nicht geeignet erscheinen lassen. Ein Kompositionsprinzip des Mönchs ist zum Beispiel die Variation. So gestaltete er bei strophischen Hymnen die einzelnen Strophen in Melodie und Rhythmus jeweils ein klein wenig anders. Selbst bei Sequenzen, deren Grundstruktur doch auf Strophenpaaren in der Form aa – bb – cc … basiert und die für eine Ausführung abwechselnd durch zwei Chöre bestimmt sind, müssen die Melodieabschnitte der Verse bei der Wiederholung nicht identisch sein, sondern schmiegen sich dem deutschen Text und seiner Deklamation an. Für die musikalische Ausführung bedeutet dies: Wenn von einem Hymnus nur die erste Strophe mit Noten überliefert ist, lassen sich die übrigen Strophen nicht ohne weiteres dieser Melodie unterlegen, sondern sie müssen eigens angepasst werden, was das Singen von einer größeren Gruppe während des Gottesdienstes ausschließt.
[31] Vgl. Wachinger 1989, 159.
[32] Zu den einzelnen Gattungen siehe Waechter 2005, 53–58; zu den Tönen des Mönchs Wachinger 1989, 159–197.
[33] Vgl. Waechter 2004, 75, 239; Waechter 2005, 6–8, 211, 263–264. Vgl. Kap. Ton und Kontrafaktur: der Barantton.
[34] Spechtler 1972, 167. Unter „par“ (= Bar) versteht der Schreiber hier eine ganze Strophe.
[35] Vgl. Spechtler 1972, 6, Anm. 9.
[1] Editionen: Spechtler 1972 bietet eine vollständige Textausgabe der geistlichen Lieder des Mönchs von Salzburg und führt die Zählung für die geistlichen Lieder des Mönchs ein: G + Nummer des Liedes; März 1999 ediert Texte und Melodien mit Kommentaren der weltlichen Lieder und führt dafür die Zählung W + Nummer ein; Waechter 2004 bringt alle Melodien des Mönchs mit Kommentar.
[2] Vgl. Spechtler 1972, 92.
[3] G 22. Die Zuschreibung ist nicht gesichert: vgl. » B. Geistliches Lied, Anm. 51.
[4] Vgl. Spechtler 1972, 69; Wachinger 1987, 662.
[5] Vgl. Zimmermann 1995, 314–316.
[6] Vgl. Wachinger 1987, 659.
[7] Beschreibung aller Handschriften bei Spechtler 1972, 34–99, und Waechter 2005, 203. In Klammer stehen im Folgenden die in der germanistischen Fachliteratur gebräuchlichen Siglen.
[8] Faksimileausgabe von Heger 1968.
[9] Bei diesem Lied bricht die Notierung nach eineinhalb Zeilen ab. Das Lied ist hingegen vollständig erhalten in der Kolmarer Liederhandschrift (D-Mbs Cgm 4997): vgl. Lütolf 2003-2010, Nr. 151. (Hinweis von Andrea Horz.)
[10] Man kann dieses Stück auch als Leich bezeichnen. Die formale Anlage aa, bb, cc, … ist die gleiche.
[11] Vgl. Spechtler 1972, 125-128; Waechter 2004, 35-39 und 211-214.
[12] Vgl. Wachinger 1989, 77–79.
[13] Vgl. Wachinger 1987, 660.
[14] Heger 1968, 29.
[15] Ein Leutpriester (Plebanus) war für die Seelsorge der Laien zuständig und hatte pfarrliche Rechte. Daher wird der Ausdruck oft synonym für „Pfarrer“ gebraucht.
[16] Zur Bedeutung Pilgrims für die Entwicklung der Musik in Salzburg siehe: Welker 2005, 76–87.
[17] Das Lied wird aufgrund seiner Überschrift mit Schloss Freisaal in Salzburg in Zusammenhang gebracht. Die Personenangabe könnte aber auch eine dichterische Fiktion sein. Vgl. hierzu Engels 2012.
[18] Dass dabei auch mehrstimmige Musik erklang, wurde oft vermutet, lässt sich aber nicht nachweisen.
[20] Vgl. Spechtler 1972, 15–16.
[21] Vgl. Spechtler 1972, 16–17.
[22] G 5 und G 9. Zu den Personen siehe Spechtler 1972, 17–18.
[23] D-Mbs Cgm 715.
[24] Unter „Predigerorden“ werden die Dominikaner verstanden.
[26] Heger 1968, 27. Dies trifft nicht zu. Ein Vergleich des Cisiojanus G 45 mit dem Kalender im Breviarium Salisburgense (Nürnberg: Stuchs 1497) zeigt, dass alle Heiligen auch dort aufgelistet sind, mit folgenden Ausnahmen: „Magdalen becheret“, d. i. Maria von Ägypten 1.4., Bernhard 20.8., Felix von Zürich 11.9., und das Gedenken an Ester im Advent.
[28] Pokorny 2012, 105.
[29] Klein 2012, 59.
[30] Spechtler 1972, 13.
[31] Vgl. Wachinger 1989, 159.
[32] Zu den einzelnen Gattungen siehe Waechter 2005, 53–58; zu den Tönen des Mönchs Wachinger 1989, 159–197.
[33] Vgl. Waechter 2004, 75, 239; Waechter 2005, 6–8, 211, 263–264. Vgl. Kap. Ton und Kontrafaktur: der Barantton.
[34] Spechtler 1972, 167. Unter „par“ (= Bar) versteht der Schreiber hier eine ganze Strophe.
[35] Vgl. Spechtler 1972, 6, Anm. 9.
[36] Eine ausdrückliche Zuweisung an den Mönch ist in den Handschriften nicht vorhanden. Der Autorenname in D ist nachgetragen. Aufgrund der unterschiedlichen Textüberlieferung zweifelt Wachinger die Autorenschaft des Mönchs an (Wachinger 1989, 36).