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Hermann Edlerawer und der Kantoreibau

Reinhard Strohm

Hermann Edlerawer aus der Diözese Mainz (» G. Hermann Edlerawer) kam spätestens 1413/1414 nach Wien, als er sich an der Universität immatrikulierte. Seit den 1420er Jahren diente er König Sigismund, danach bis mindestens 29. April 1437 Herzog Albrecht V. Am 27. Jänner 1436 siegelte er eine Urkunde als „Amtmann und Grundschreiber des Schottenklosters“.[77] In den Jahren 1440–1444 ist er als Schulkantor von St. Stephan belegt (er könnte das Amt allerdings schon seit 1438 und bis gegen 1449 ausgeübt haben; Nachweise dafür fehlen). Seine Karriere war untypisch für einen damaligen Kirchenmusiker. In den Wiener Stadtrechnungen scheint er zum ersten Mal 1438 auf, als der Rat „dem hermanne“ 10 tl. ausbezahlen ließ.[78] Da kein Schulkantor vorher so viel Gehalt vom Stadtrat bekommen hatte, betraf dies vielleicht eine besondere städtische Veranstaltung (vgl. Kap. Musikalische Dienste der Kantorei seit ca. 1440) oder eine Rückerstattung von Ausgaben. 1440 erstattete man „hermanne cantori“ ausdrücklich zur „pawhilf (Bauhilfe) seiner cantorey“ 20 tl. und 1441 noch einmal 12 tl.[79]

Bis gegen 1440 dürfte sich der Musikunterricht des Schulkantors meistens in der Schule abgespielt haben. Anderswo in Europa waren Lettner zwar durchaus für musikalische Aufführungen gedacht und oftmals Standort einer kleineren Orgel, doch war an St. Stephan der Platz auf dem Lettner sehr durch andere Messen sowie Bauarbeiten behindert.[80] Das gottesdienstliche Singen hatte an den jeweils vorgeschriebenen Stellen zu erfolgen – auch im Hochchor – während für die Altäre am Lettner derzeit keine Stiftungen mit Kantoreibeteiligung bekannt sind.

Das Kantoreihaus – als Wohnung und Arbeitstätte des Kantors – wird erstmalig in einer Urkunde von 1438 genannt.[81] Es war kein freistehendes Gebäude, sondern seitlich an die Magdalenenkapelle auf dem Stephansfriedhof angebaut (» Abb. Kantorei und Magdalenenkapelle). Die Magdalenenkapelle war der Oberstock des Neuen Karners, der 1304 über der alten Virgil- oder Erasmuskapelle an der Ecke des Stephansfriedhofes errichtet worden war. Die Kapelle gehörte der Wiener Schreiberzeche, also der Bruderschaft der städtischen Beamten (» E. Städtisches Musikleben; » E. Kap. Musikergenossenschaften).

 

Abb. Kantorei und Magdalenenkapelle

Kantorei und Magdalenenkapelle

Ausschnitt einer Stadtansicht Wiens mit St. Stephan (kolorierter Stich, Jacob Hoefnagel, 1609); rechts des Stephansdoms ist die Magdalenenkapelle mit dem seitlich angebauten zweigiebeligen Kantoreihaus zu sehen (direkt rechts daneben: Nr. „18“).

© Wien Museum. Inv. Nr. 31043.

 

Dass Hermann Edlerawer den Neubau bzw. Weiterbau der Kantorei persönlich verantwortete, ist u. a. aus einer städtischen Streitsache vom 5. November 1440 ersichtlich: Wie schon in der erwähnten Urkunde von 1438 festgestellt, grenzte das Kantoreigebäude an die Friedhofsmauer, auf deren anderer Seite das Haus des Apothekers Nicolas Laynbacher stand. Laynbacher verklagte den Kantor nun wegen des Regenwassers, das vom Ziegeldach der Kantorei auf sein Anwesen herunterlief. Das Urteil fiel zugunsten Edlerawers aus, da das Kantoreidach nicht über die Friedhofsmauer hinausreiche und diese selbst Besitz der Kirche sei.[82]

Zuvor hatte die Kantorei noch kein eigenes Gebäude außerhalb der Kirche gehabt; der Gesang wurde in der Schule oder der Kirche selbst einstudiert, störend neben den anderen Tätigkeiten. Nunmehr konnten geeignete Schüler auf Gesangsaufgaben in einem eigens dafür vorgesehenen Gebäude vorbereitet werden. Diesen Vorteil bestätigte die 1446 durch den Stadtrat erlassene Ordnung der Bürgerschule (» E. Städtisches Musikleben): Sie erlaubte dem Kantor, die geeigneten Schüler zum Singen aus der Schule herauszuholen (aber nur vor dem Mittagessen) und nicht immer alle zusammen für alle Gesangsdienste, sondern jeweils verschiedene Gruppen. Dafür entzog sie ihm und seinem „subcantor“ den Unterrichtsraum („locatei“) in der Schule, wo die Singschüler vorher zusammen unterwiesen worden waren, ungeachtet ihres Ausbildungsstandes („irer begrifflichait“), was zur „irrung des kors“ geführt hatte. Da Kantor und Subkantor (Helfer des Schulkantors; vgl. Kap. Personelle Voraussetzungen der Kirchenmusik) aber ja nicht nur Musik zu lehren hatten, sollte einer von ihnen für die anderen Unterrichtsstunden nach dem Mittagessen in der Schule bleiben. Wichtig ist die abschließende Empfehlung, dass der Kantor die Knaben in seinem Haus behalten könne, wenn ihm die Regelung nicht passe.[83]

„Item furbaser sol der kantor kain sundere locacein in der schul haben, als es auch vor jarnn gewesen ist. Wann er und ein subcantor von irrung des kors dieselben nicht wol verpesen [verbessern] mugen, sunder all schuler, die der cantor hat, sol man seczen nach gelegenhait irer begrifflichait, und wenn er sein schuler zu dem kor nuzen wil, so mag er sew vodern [anfordern]. Auch mugen im die locatenn ander knaben zuschickchenn, die fugsam sein zu dem kor, doch also das ein austailung werde der knaben, also das sy nicht all zu allen ambten geen, sunder yetz ain tail, darnach einn ander tail zu einem andern ambt. Darumb sol der cantor und sein subcantor gehorsam tun, und sullen vor essens alain dem kor wartenn. Aber nach essens sol ir ainer stetlich in der schul beleiben und den obristen locaten helffen zu lernen die schuler. Wer [Wäre es] aber, das die vorgeschrieben weis von dem cantor nicht fugsam dewcht sein [als passend empfunden wird], so halt der cantor sein knaben in seinem haws fur sich selber.“ [84]

So war nicht nur ein geeigneter Proberaum für Musik geschaffen, sondern auch eine bauliche Demonstration der Bedeutung des Kirchengesangs durch die Kantorei und gleichzeitig der Bedeutung von Hermann Edlerawers Rolle als Kantor. Es gibt im sonstigen damaligen Europa kaum Belege für eigene Kantoreihäuser. Doch nicht zufällig wurde auch am Schottenkloster, wo Edlerawer 1436 als Verwalter gewirkt hatte, unter Abt Martin von Leibitz (1446–1461) in den Jahren 1446–1449 eine „Singstube“ gebaut.[85]

[77] Melk, Stiftsarchiv, Urkunden (1075–1912), Nr. 1436 I 27.http://monasterium.net/mom/AT-StiAM/archive [02.06.2016].

[78] OKAR 5 (1438), fol. 92r.

[79] OKAR 6 (1440), fol. 98r, bzw. OKAR 7 (1441), fol. 111r.

[80] Letztere Anmerkung nach einer freundlichen Information von Prof. Barbara Schedl, Wien.

[81] Mayer 1895–1937, Abt. II/Bd. 2, Nr. 2656 (3. Juli 1438). Andere, z. T. widersprüchliche Angaben zitiert Ebenbauer 2005, 38 f.

[82] A-Wda, Urkunde 14401105.

[83] Vgl. auch Flotzinger 2014, 56 f.

[84] Boyer 2008, 36 f. Siehe auch » H. Schule, Musik, Kantorei.

[85] Mantuani 1907, 289 f., Anm. 1. Zu Martin von Leibitz und seinem Caeremoniale (A-Wn Cod. 4970) vgl. Schusser 1986, 82, Nr. 65, und » A. Melker Reform.