Kain höhers lebt und O edle frucht
Manche Lieder zeigen einen offensichtlichen Herrschaftsbezug. Die Münchner Handschrift » D-Mbs Mus. ms. 3155, nicht lange nach Maximilians I. Tod angelegt, wird mit einem Lied Ludwig Senfls eröffnet, das die panegyrische Adresse an Maximilian als Kaiser des Heiligen Römischen Reichs mit seinem Wappentier nicht deutlicher zur Schau tragen könnte (» Notenbsp. Kain höhers lebt). Die erste Strophe lautet:
Kain höhers lebt, noch schwebt,
dem Adler yetz auf erden gleich.
Jn aller welt hochgemellt,
vber das heilig Römisch reich.
Die flug außprait, hellt frid vnd Klaid,
den Jungen sein, mit grechtem schein,
groß miltigkait wilpanen vnd Glaid,
Zu Zaigen schon,
seiner edlen Kayserlichen Kron.
(Nichts Höheres lebt oder erhebt sich nun über das Heilige Römische Reich als der Adler, der in aller Welt von hohem Ansehen ist. Er breitet seine Flügel aus, bewahrt für seine Kinder den Frieden und gewährt Schutz. Dabei erweist er seinen Gefolgsleuten seine große Freigebigkeit mit urkundlichen Beweisen über Wildbanne und Jagdgründe seiner herrlichen kaiserlichen Kronlande.)[40]
Die Schlusszeile der vierten Strophe zitiert Maximilians Devise „halltu mas in allen dinngen“ („Tene mensuram“).
Einen ganz anderen Ton hatte sechzig Jahre früher ein Gedicht angeschlagen, dessen Anfang das in » I-TRbc 88, fol. 106r, notierte dreistimmige Lied mit der Textmarke O edle frucht und dem Kontrafakturtext Martinus Abrahe sinu zitiert.[41] O edle frucht ist ein Liebeslied, das einer vielleicht metaphorischen, vielleicht aber auch echten Kaiserin huldigt. Der Beginn der zweiten Strophe versichert ihr direkt:
Gantz ewencklichen in steter trew
Mein kayserin, beger jch dein.
Ich naig mich fur dich vff die knie,
Lauz uz meins hertzen senende pein!
(In alle Ewigkeit begehre ich dich, meine Kaiserin, in immerwährender Treue. Ich verneige mich vor dir, indem ich auf die Knie gehe, stille die Sehnsucht meines Herzens!)
Und im Unterschied zu dem in Liedern häufiger anzutreffenden Vergleich der adressierten Geliebten mit einer Kaiserin gibt sich der Liebende in der dritten Strophe selbst zu erkennen:
Wann du mir büethst ain fruntlich wort
Dar fur ich lieb nit kayser wer.
(Wenn du mir ein freundliches Wort gewährtest, würde ich dafür gerne meinen Kaiserstatus hergeben.)
Anders als die Melodie des Senfl-Liedes, deren Duktus bereits so gestaltet ist, dass er sich organisch in das polyphone Stimmengewebe einpasst, deklamiert dieses Lied seinen ausdrucksvoll konstruierten, emphatisch ausgreifenden Tenor so, dass man sich gut vorstellen kann, wie es einstimmig, gegebenenfalls mit einer moderaten Begleitung, vorgetragen wurde. (» Notenbsp. O edle frucht)
Die Indizien für einen Zusammenhang von O edle frucht mit der kaiserlich-höfischen Sphäre sind zugegebenermaßen schwach, zumal von der privaten Musikpraxis Kaiser Friedrichs III. so sehr wenig bekannt ist. Doch ist es ein verlockender Gedanke anzunehmen, das Liednotat gegen Ende der 1450er Jahre stünde in Beziehung zu dessen 1452 erfolgter Heirat mit Eleonore von Portugal. Er musste ihr das Lied nicht vorsingen – dazu gab es bei Hof einen Sänger, er machte sich zum Medium eines aktualisierten „kulturellen Handeln[s] in konventionalisierten Umständen“[42], dem beständigen Umkreisen der Liebe als Thema. Wie dem auch sei: Der Vergleich der beiden Lieder illustriert die Wegstrecke, die das höfische deutsche Tenorlied zwischen 1450 und 1520 in der Region Österreich zurücklegte: von der mehrstimmigen Ummantelung einer gewichtigen Melodie zur polyphonen Konzeption.
[40] Vgl. Schwindt 2013, 127 und 133.
[41] Ediert in Adler/Koller 1900, 269. Näheres zu diesem Lied und seinem Text bei Schwindt 1999, 58–62.
[42] Hübner 2013, 107.
[1] Beispielsweise So lanc so meer als So lang si mir (in I-TRbc 90, fol. 344v) oder Een vraulic wesen als Ein frölich wesenn (im Liederbuch des Johannes Heer, CH-SGs Ms. 462, fol. 28v–30r).
[2] Binchois’ Dueil angoisseux wird in I-TRbc 88, fol. 204v, zu De langwesus; von der Frottolazeile „Tente a l’ora, ruzinente, ch’io vo’ cantar“ bleibt im vom Augsburger Johann Wüst geschriebenen Manuskript CH-Bu F X 1–4 (fol. 97) noch „Dentelore“ übrig; ein Quodlibet der Saganer Stimmbücher (Nr. 118) zitiert die Lieder Rabaßkadol und Panny, pany, baby („Frau, Frau, alte Frau“).
[4] Es handelt sich um die RISM-Nummern 1512/1, 1513/2, [1513]/3, [1513]/3 (1517 in Mainz erschienen) und [1519]/5 (als xylographischer Reprint eines verschollenen um 1510 in Augsburg publizierten Liederbuchs 1514/1515 gedruckt, s. Schwindt 2008).
[5] Zu allen drei Handschriften vgl. Strohm 1993, 492–503.
[8] Nach Strohm 1993, 519, und Strohm 2001, 23, ist die Handschrift von vornherein im Besitz der Chorschule von St. Jakob, Innsbruck, gewesen, deren Kräfte zum musikalischen Hofdienst herangezogen wurden. Vgl. auch » G. Nicolaus Krombsdorfer.
[10] I-TRbc 89, fol. 388v–389r; I-Fn, B.R. 229, fol. 174v–175r; » Guter seltzamer und kunstreicher teutscher Gesangk; Nürnberg 1544, Nr. 8: „Heyaho nun wie sie grollen dort auff dem Ritten die geschwollen“ in der Secunda pars, T. 76–85; Textanspielung am Satzbeginn, T. 1–13: „Woll wir aber heben an den Danhauser zu singen“ (DTÖ 147/148, 63 und 69 f.).
[11] Bienenfeld 1904/1905, 96, Anm. 2.
[12] CH-Zz, Ms. G 438 (geschrieben um 1524); Pfisterer 2013.
[13] A-Wn Mus.Hs. 18810 (um 1524) und D-Mu, 8°Cod. ms. 328–331 (vor 1527), auch „Welser-Liederbuch“ genannt.
[14] Auch „Herwart-“ oder „Augsburger Liederbuch“ genannt.
[15] Birkendorf 1994, Bd. 1, 98.
[16] Schwindt 2013, 126–130.
[17] D-W, Cod. Guelf. 78.Quodl.4 (Süddeutschland um 1505); D-Mbs Mus. ms. 4483 (Süddeutschland um 1515); A-Wn Cod. 4337 (Wien, Anfang 1520er Jahre); D-W Cod. Guelf. 292 Musica hdschr. (Konstanz?, um 1525).
[18] CH-Bu F X 10 (1510); CH-Bu F X 5–9 (Faszikel I: ca. 1510); CH-Bu F X 1–4 (Faszikel I: ca. 1517/1518, Faszikel II: ca. 1524); CH-Bu F VI 26 (1. Viertel 16. Jahrhundert); CH-SGs Ms. 462 (1510–1516, 1530), auch „Heer-Liederbuch“ genannt.
[19] Siehe oben Anm. 4.
[20] RISM 1534/17: » Der erst teil. Hundert vnd ainundzweintzig newe Lieder…, hrsg. von Johann Ott, Nürnberg 1534.
[21] Sterl 1971, 24. Grünwald/Gruenwolt ist 1483–1487 als Persefant (Unterherold) in Regensburg nachweisbar.
[22] Grosch 2013, 48–54.
[23] A-Wn Cod. 3027 (Passau ca. 1492–1494), fol. 174v–177r: „Von yppliklichen dingen“. Partiturwiedergabe in Curschmann 1970, 22 f.
[24] Quodlibet Nr. XX zitiert mit dem Verspaar „Da schalt sie jhn ein trollen, ein truncken vnd ein vollen“ aus der Mitte der dritten Hesselloher-Strophe (Secunda pars, T. 133–137, der Rhythmus entspricht der Liedvorlage, die diastematische Führung ist leicht modifiziert, siehe DTÖ 147/148, 132).
[25] A-Whh RR V (1489-1492): Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Reichsregister Bd. V (1489–1492), fol. 60r.
[26] „Die situationsbasierten Thematisierungsverfahren lassen die Liebe vor allem als kulturelles Handeln in konventionalisierten Umständen erscheinen“: Hübner 2013, 107.
[27] Die älteste verfügbare Quelle zum mehrstimmigen Elslein-Lied sind die Saganer Stimmbücher (PL-Kj Berol. Mus.ms. 40098). Es gibt in der Tat eine frühere, von ca. 1455 stammende Überlieferung in Form einer einstimmigen Melodie, allerdings handelt es sich um einen lateinischen Text Gaudeamus pariter (CZ-Pnm Vysehrad 376, fol. 39v; Digitalisat in der Datenbank Melodiarum hymnologicum Bohemiae:http://tinyurl.com/gaudeamuspariter). Es ist sehr gut möglich oder sogar wahrscheinlich, dass es sich dabei um eine geistliche Kontrafaktur des weltlichen einstimmigen Elslein-Liedes handelt. Dieses ist aber bislang nicht dokumentierbar.
[28] Die ältesten Quellen zu diesem populären Lied sind ein Einblattdruck des Textes von Albert Kunne (Memmingen, ca. 1501, siehe http://tinyurl.com/Ich-stund-Kunne, Metadaten unter http://tinyurl.com/Kunne-meta) und eine freie paraphrasierende Bearbeitung von Melodiebestandteilen unter der Textmarke im Tenor „Ich stund an einem Morgen“, die um 1499/1500 auf fol. 221v–222r in den Berliner Mensuralkodex D-B Mus. ms. 40021 eingetragen wurde. Beide legen einen Bezug zu einer allgemein bekannten Liedmelodie nahe, ohne dass diese heute als ältere Niederschrift nachweisbar wäre.
[29] D-B Ms. germ. oct. 280, fol. 48b–49b (Nr. 33): Ich sien den morgenssterren.
[30] Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Geheimes Hausarchiv, 601, XXVI, Brief Herzog Philipps an seinen Vater Wilhelm V. vom 13.10.1593.
[31] Zur Geschichte des Terminus siehe Grosch 2013, 23–33. Vgl. auch » B. Minnesang und alte Meister zur Begriffstradition der „tenores“, die zunächst keineswegs mit Mehrstimmigkeit verknüpft war.
[32] Vollständige Transkription beider Lieder und weitere Bemerkungen in Strohm 1993, 496–499.
[34] Strohm 1989; Leverett 1995; Höink 2012. Dem Überblick wäre noch die von Nicolas Champion dit Liegeois komponierte Missa Ducis Saxsoniae Sing ich nit wol hinzuzufügen, deren Liedbasis bereits vor dem süddeutschen Manuskript D-WGl Lutherhalle Ms. 403/1048 (um 1535/1536) in Bernhard Rems Stimmbuchsatz D-Mu, 8°Cod. ms. 328–331 (vor 1527) festgehalten ist.
[35] D-Mbs Mus. ms. 3154, fol. 53v: Tannhauser Ihr seid mir lieb (3v), fol. 151r: Veni creator spiritus und Thanhauser jr seit mir lieb. Heidrich 2005, 54 ff.
[36] Klüpfel; Karl (Hrsg.): Urkunden zur Geschichte des Schwäbischen Bundes (1488–1533), Bd. 1, Stuttgart 1846, 24.
[37] Zur Autorschaft siehe Leverett 1995, zum musikalischen Stil im Umfeld Friedrichs III. siehe Schmalz 1987, zum Titel siehe Strohm 1989.
[38] Schwindt 2006, 51–56.
[40] Vgl. Schwindt 2013, 127 und 133.
[41] Ediert in Adler/Koller 1900, 269. Näheres zu diesem Lied und seinem Text bei Schwindt 1999, 58–62.
[42] Hübner 2013, 107.
Empfohlene Zitierweise:
Nicole Schwindt: „Lieder in der Region Österreich, ca. 1450–ca. 1520“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/lieder-der-region-osterreich-ca-1450-ca-1520> (2016).