„Tenorlied“ und Stimmfunktionen
Der Usus, eine – wenn nicht faktisch als solche gesungene, so doch als singbar anmutende – Weise zum strukturellen Kern einer Komposition zu machen, bestimmte das deutsche Renaissancelied in stärkerer und anhaltenderer Weise als Kompositionen andernorts, so dass von manchen Vorlagen, meist den prägnanteren, ganze Liedfamilien entstanden. In Übereinstimmung damit, dass isolierte Melodien bereits von den Zeitgenossen als „Tenores“ bezeichnet wurden, erfand die Forschung das Label „Tenorlied“ für die betreffende satztechnische Struktur.[31] Dies geschah anfangs nicht ohne ideologische Nebenabsichten, nämlich zur unterschwelligen Bewertung als einer Art deutscher Tenorgesinnung. Nach neuerem Verständnis ist die Tenor-Orientierung der „Gattung Tenorlied“ jedoch eine charakteristische Art, mit musikalischem Material generell umzugehen. Insbesondere beim Vergleich von Liedern, die an verschiedenen Stellen unterschiedlicher Regionen auftauchen, ist der eingeschränkte Textstatus der Überlieferungen erkennbar. Der Wunsch, ein vorhandenes Lied als Impulsgeber für weitere produktive Beschäftigung zu behandeln, überwiegt oft die Absicht, unveränderliche Werke zu schaffen. Es ging vor allem darum, Material für neue Bearbeitungen zu haben.
Wenn Lieder im 15. Jahrhundert ganz offensichtlich wanderten, dann kursierten sie nur ausnahmsweise als gleichbleibende Liedsätze. Meist blieb nur die Hauptmelodie einigermaßen stabil und erfuhr andernorts eine je abweichende polyphone Einkleidung. Die Hauptmelodie lag in der Regel im Tenor, was ebenso die Stimmfunktion im mehrstimmigen Satzverband (Ténor), als auch die natürliche männliche Stimmlage (Tenór) meinte. Für das deutsche Lied blieb diese Disposition länger der Normalfall als für andere europäische Liedtraditionen, in denen mit der Verbreitung des franko-flämischen Stils die Oberstimme zum Melodieträger wurde. Dass es aber auch weitere Optionen gab, illustrieren verschiedene Fälle im „Glogauer Liederbuch“ (Saganer Stimmbücher, PL-Kj Berol. Mus. ms 40098). Das auch im Innsbrucker Leopold-Kodex bearbeitete Lied Ich sachs einsmals wird in einer dreistimmigen Version mit Liedmelodie in der Mittelstimme präsentiert. Im Altus-Stimmbuch erscheint die Weise aber nochmals separat in anderer Mensur und in halbierten Notenwerten, dazu der Vermerk „Tenor“. Diese Eintragung wirkt wie eine Aufforderung, dazu eine Fassung mit anderer Verteilung der Stimmfunktionen zu ersinnen. Auch zum Tenorliedsatz von In feuers hitz (der zudem mit dem lateinischen Text Mole gravati criminum mater unterlegt wurde) wird an anderer Stelle in der Saganer Quelle im Diskant-Stimmbuch die einstimmige Melodie vorgelegt, allerdings ohne in einer „Sopran“-Region notiert zu sein. Doch beim dreistimmigen Saganer Lied Wes mich leydt trägt tatsächlich die höchste Stimme den Lied-Cantus firmus vor. Das ist sein Platz auch in der Paraphrase im Leopold-Kodex, wo es auf den Text O dulcis Maria den Abschluss einer sechsteiligen Motette bildet. Es findet sich auch in den beiden von Bernhard Rem in Augsburg geschriebenen ‚antiquarischen‘ Liedersammlungen, allerdings wird dort der Saganer Satz als Ganzes wiedergegeben, lediglich mit einer eingepassten Alt-Stimme auf modernen Stand gebracht und einem gewissen Hans Sygler (dem Autor der Ergänzungsstimme?) zugewiesen.
Selbst wenn das kontrapunktische Diskant-Tenor-Gerüst bei einer Lied-Wanderung intakt blieb, wurde die dritte Stimme, der Contratenor, regelmäßig ausgetauscht. Das allerdings ist im 15. Jahrhundert Brauch, in italienischen und französischen Kompositionen verhält es sich nicht anders. Man kann das Verfahren beim Vergleich der Saganer und der Schedelschen Fassung von In feuers hitz beobachten; es charakterisiert auch die zwei Varianten von Mein hertz in staten trewen.
[31] Zur Geschichte des Terminus siehe Grosch 2013, 23–33. Vgl. auch » B. Minnesang und alte Meister zur Begriffstradition der „tenores“, die zunächst keineswegs mit Mehrstimmigkeit verknüpft war.
[1] Beispielsweise So lanc so meer als So lang si mir (in I-TRbc 90, fol. 344v) oder Een vraulic wesen als Ein frölich wesenn (im Liederbuch des Johannes Heer, CH-SGs Ms. 462, fol. 28v–30r).
[2] Binchois’ Dueil angoisseux wird in I-TRbc 88, fol. 204v, zu De langwesus; von der Frottolazeile „Tente a l’ora, ruzinente, ch’io vo’ cantar“ bleibt im vom Augsburger Johann Wüst geschriebenen Manuskript CH-Bu F X 1–4 (fol. 97) noch „Dentelore“ übrig; ein Quodlibet der Saganer Stimmbücher (Nr. 118) zitiert die Lieder Rabaßkadol und Panny, pany, baby („Frau, Frau, alte Frau“).
[4] Es handelt sich um die RISM-Nummern 1512/1, 1513/2, [1513]/3, [1513]/3 (1517 in Mainz erschienen) und [1519]/5 (als xylographischer Reprint eines verschollenen um 1510 in Augsburg publizierten Liederbuchs 1514/1515 gedruckt, s. Schwindt 2008).
[5] Zu allen drei Handschriften vgl. Strohm 1993, 492–503.
[8] Nach Strohm 1993, 519, und Strohm 2001, 23, ist die Handschrift von vornherein im Besitz der Chorschule von St. Jakob, Innsbruck, gewesen, deren Kräfte zum musikalischen Hofdienst herangezogen wurden. Vgl. auch » G. Nicolaus Krombsdorfer.
[10] I-TRbc 89, fol. 388v–389r; I-Fn, B.R. 229, fol. 174v–175r; » Guter seltzamer und kunstreicher teutscher Gesangk; Nürnberg 1544, Nr. 8: „Heyaho nun wie sie grollen dort auff dem Ritten die geschwollen“ in der Secunda pars, T. 76–85; Textanspielung am Satzbeginn, T. 1–13: „Woll wir aber heben an den Danhauser zu singen“ (DTÖ 147/148, 63 und 69 f.).
[11] Bienenfeld 1904/1905, 96, Anm. 2.
[12] CH-Zz, Ms. G 438 (geschrieben um 1524); Pfisterer 2013.
[13] A-Wn Mus.Hs. 18810 (um 1524) und D-Mu, 8°Cod. ms. 328–331 (vor 1527), auch „Welser-Liederbuch“ genannt.
[14] Auch „Herwart-“ oder „Augsburger Liederbuch“ genannt.
[15] Birkendorf 1994, Bd. 1, 98.
[16] Schwindt 2013, 126–130.
[17] D-W, Cod. Guelf. 78.Quodl.4 (Süddeutschland um 1505); D-Mbs Mus. ms. 4483 (Süddeutschland um 1515); A-Wn Cod. 4337 (Wien, Anfang 1520er Jahre); D-W Cod. Guelf. 292 Musica hdschr. (Konstanz?, um 1525).
[18] CH-Bu F X 10 (1510); CH-Bu F X 5–9 (Faszikel I: ca. 1510); CH-Bu F X 1–4 (Faszikel I: ca. 1517/1518, Faszikel II: ca. 1524); CH-Bu F VI 26 (1. Viertel 16. Jahrhundert); CH-SGs Ms. 462 (1510–1516, 1530), auch „Heer-Liederbuch“ genannt.
[19] Siehe oben Anm. 4.
[20] RISM 1534/17: » Der erst teil. Hundert vnd ainundzweintzig newe Lieder…, hrsg. von Johann Ott, Nürnberg 1534.
[21] Sterl 1971, 24. Grünwald/Gruenwolt ist 1483–1487 als Persefant (Unterherold) in Regensburg nachweisbar.
[22] Grosch 2013, 48–54.
[23] A-Wn Cod. 3027 (Passau ca. 1492–1494), fol. 174v–177r: „Von yppliklichen dingen“. Partiturwiedergabe in Curschmann 1970, 22 f.
[24] Quodlibet Nr. XX zitiert mit dem Verspaar „Da schalt sie jhn ein trollen, ein truncken vnd ein vollen“ aus der Mitte der dritten Hesselloher-Strophe (Secunda pars, T. 133–137, der Rhythmus entspricht der Liedvorlage, die diastematische Führung ist leicht modifiziert, siehe DTÖ 147/148, 132).
[25] A-Whh RR V (1489-1492): Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Reichsregister Bd. V (1489–1492), fol. 60r.
[26] „Die situationsbasierten Thematisierungsverfahren lassen die Liebe vor allem als kulturelles Handeln in konventionalisierten Umständen erscheinen“: Hübner 2013, 107.
[27] Die älteste verfügbare Quelle zum mehrstimmigen Elslein-Lied sind die Saganer Stimmbücher (PL-Kj Berol. Mus.ms. 40098). Es gibt in der Tat eine frühere, von ca. 1455 stammende Überlieferung in Form einer einstimmigen Melodie, allerdings handelt es sich um einen lateinischen Text Gaudeamus pariter (CZ-Pnm Vysehrad 376, fol. 39v; Digitalisat in der Datenbank Melodiarum hymnologicum Bohemiae:http://tinyurl.com/gaudeamuspariter). Es ist sehr gut möglich oder sogar wahrscheinlich, dass es sich dabei um eine geistliche Kontrafaktur des weltlichen einstimmigen Elslein-Liedes handelt. Dieses ist aber bislang nicht dokumentierbar.
[28] Die ältesten Quellen zu diesem populären Lied sind ein Einblattdruck des Textes von Albert Kunne (Memmingen, ca. 1501, siehe http://tinyurl.com/Ich-stund-Kunne, Metadaten unter http://tinyurl.com/Kunne-meta) und eine freie paraphrasierende Bearbeitung von Melodiebestandteilen unter der Textmarke im Tenor „Ich stund an einem Morgen“, die um 1499/1500 auf fol. 221v–222r in den Berliner Mensuralkodex D-B Mus. ms. 40021 eingetragen wurde. Beide legen einen Bezug zu einer allgemein bekannten Liedmelodie nahe, ohne dass diese heute als ältere Niederschrift nachweisbar wäre.
[29] D-B Ms. germ. oct. 280, fol. 48b–49b (Nr. 33): Ich sien den morgenssterren.
[30] Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Geheimes Hausarchiv, 601, XXVI, Brief Herzog Philipps an seinen Vater Wilhelm V. vom 13.10.1593.
[31] Zur Geschichte des Terminus siehe Grosch 2013, 23–33. Vgl. auch » B. Minnesang und alte Meister zur Begriffstradition der „tenores“, die zunächst keineswegs mit Mehrstimmigkeit verknüpft war.
[32] Vollständige Transkription beider Lieder und weitere Bemerkungen in Strohm 1993, 496–499.
[34] Strohm 1989; Leverett 1995; Höink 2012. Dem Überblick wäre noch die von Nicolas Champion dit Liegeois komponierte Missa Ducis Saxsoniae Sing ich nit wol hinzuzufügen, deren Liedbasis bereits vor dem süddeutschen Manuskript D-WGl Lutherhalle Ms. 403/1048 (um 1535/1536) in Bernhard Rems Stimmbuchsatz D-Mu, 8°Cod. ms. 328–331 (vor 1527) festgehalten ist.
[35] D-Mbs Mus. ms. 3154, fol. 53v: Tannhauser Ihr seid mir lieb (3v), fol. 151r: Veni creator spiritus und Thanhauser jr seit mir lieb. Heidrich 2005, 54 ff.
[36] Klüpfel; Karl (Hrsg.): Urkunden zur Geschichte des Schwäbischen Bundes (1488–1533), Bd. 1, Stuttgart 1846, 24.
[37] Zur Autorschaft siehe Leverett 1995, zum musikalischen Stil im Umfeld Friedrichs III. siehe Schmalz 1987, zum Titel siehe Strohm 1989.
[38] Schwindt 2006, 51–56.
[40] Vgl. Schwindt 2013, 127 und 133.
[41] Ediert in Adler/Koller 1900, 269. Näheres zu diesem Lied und seinem Text bei Schwindt 1999, 58–62.
[42] Hübner 2013, 107.
Empfohlene Zitierweise:
Nicole Schwindt: „Lieder in der Region Österreich, ca. 1450–ca. 1520“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/lieder-der-region-osterreich-ca-1450-ca-1520> (2016).