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Einstimmige Weise – mehrstimmiges Lied

Nicole Schwindt

Ein mehrstimmig komponiertes Lied wird von einer Liedweise und einem Liedsatz repräsentiert, zu dem in der Regel, aber nicht zwingend ein (erklingender oder mitgedachter) Text gehört. Die in der Natur der Sache liegende Spannung zwischen diesen Komponenten prägt die Hervorbringung und Rezeption von Liedern, und zwar deutscher Lieder des 15. und 16. Jahrhunderts noch stärker als solcher aus anderen europäischen Regionen. In welcher Beziehung die Komposition mehrstimmiger Lieder zur althergebrachten monophonen Liedpflege stand, kann nur vermutet werden. Man neigt heutzutage dazu, davon auszugehen, dass einstimmig gesungene Lieder, deren Melodien mehr oder auch weniger bekannt, aber auf alle Fälle existent waren, irgendwann (mündlich oder schriftlich) in die Mehrstimmigkeit überführt und dann als solche notiert wurden. Diese natürlich wirkende Chronologie (eine einstimmige Liedweise wird zu einem späteren Zeitpunkt mehrstimmig gesetzt) leidet im Zusammenhang mit weltlichen polyphonen Liedern indes an dem Schönheitsfehler, dass es bislang noch nicht gelungen ist, irgendwo in schriftlicher Form eine solche vorgängige Melodie ohne irgendeine Bearbeitung mit früherem Datum als das Notat des betreffenden Satzes oder der verschiedenen Sätze nachzuweisen, selbst nicht bei so urwüchsig wirkenden Liedern wie Elslein, liebes Elselein[27] oder Ich stund an einem morgen.[28] Man kann daher allenfalls annehmen, dass Komponisten auf der Basis präexistenter monophoner Lieder polyphone Tonsätze wie Lieder, Messen und Instrumentalstücke geformt haben. Man kann diese einstimmigen Weisen auch rekonstruieren, belegen lassen sie sich aber offenbar nicht. Dieser eigenartige Sachverhalt mag seinen Grund darin haben, dass einstimmige weltliche Lieder im 15. Jahrhundert ohnehin eher sporadisch mit Noten aufgeschrieben wurden, während dies bei geistlichen Liedern weit üblicher war. Es kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, dass die Liedmelodien, die wir aus Liedsätzen kennen, überwiegend für diese mehrstimmigen Gebilde geschaffen wurden und sich post festum hieraus verselbstständigt haben. In der Tat gibt es ausreichend Belege dafür, dass Melodien aus Liedsätzen extrahierend gewonnen wurden und sehr wohl den Charakter von autonomen, ja populären Liedern annehmen konnten. Man sang sie hernach entweder plan und einstimmig, ggf. mit kontrafaziertem Text, oder man legte sie neuen Kompositionen zugrunde. Das in den Saganer Stimmbüchern und im Leopold-Kodex vertretene sowie bei Schmeltzl zitierte dreistimmige Tagelied über den am Horizont auftauchenden Morgenstern Ich sachs einsmals (» Hörbsp. ♫ Ich sachs einsmals) findet sich notenlos auch im sogenannten Liederbuch der Anna von Köln,[29] in dem ab 1500 Texte und Melodien für Schwestern der Devotio moderna zusammentragen und geistlich umgedichtet wurden. Die von Isaac mehrstimmig gesetzte und wahrscheinlich für den polyphonen Satz als Melodie erfundene Weise Innsbruck ich muss dich lassen sang der bayerische Prinz Albrecht noch im Jahr 1593 auf dem Weg zu seinem Studienort Ingolstadt, angepasst auf die Worte „O München ihe muest dich lassen, Ich zeich dahin mein strassen“.[30] Auch aus Hofhaimers Lied Ach lieb mit leid, erstmals in der Augsburger Handschrift » D-As Cod. 2° 142a und Öglins erstem Druck überliefert (» Abb. Hofhaimer, Ach lieb mit leid), koppelte der kurpfälzische Rat Philipp von Winnenberg den Tenor aus, kappte die in der Mehrstimmigkeit erforderlichen Pausen und publizierte ihn mit geistlichem Text in seiner einstimmigen Liedsammlung » Christlicher Reuter Lieder (Straßburg 1582).

 

[27] Die älteste verfügbare Quelle zum mehrstimmigen Elslein-Lied sind die Saganer Stimmbücher (PL-Kj Berol. Mus.ms. 40098). Es gibt in der Tat eine frühere, von ca. 1455 stammende Überlieferung in Form einer einstimmigen Melodie, allerdings handelt es sich um einen lateinischen Text Gaudeamus pariter (CZ-Pnm Vysehrad 376, fol. 39v; Digitalisat in der Datenbank Melodiarum hymnologicum Bohemiae:http://tinyurl.com/gaudeamuspariter). Es ist sehr gut möglich oder sogar wahrscheinlich, dass es sich dabei um eine geistliche Kontrafaktur des weltlichen einstimmigen Elslein-Liedes handelt. Dieses ist aber bislang nicht dokumentierbar.

[28] Die ältesten Quellen zu diesem populären Lied sind ein Einblattdruck des Textes von Albert Kunne (Memmingen, ca. 1501, siehe http://tinyurl.com/Ich-stund-Kunne, Metadaten unter http://tinyurl.com/Kunne-meta) und eine freie paraphrasierende Bearbeitung von Melodiebestandteilen unter der Textmarke im Tenor „Ich stund an einem Morgen“, die um 1499/1500 auf fol. 221v–222r in den Berliner Mensuralkodex D-B Mus. ms. 40021 eingetragen wurde. Beide legen einen Bezug zu einer allgemein bekannten Liedmelodie nahe, ohne dass diese heute als ältere Niederschrift nachweisbar wäre.

[29] D-B Ms. germ. oct. 280, fol. 48b–49b (Nr. 33): Ich sien den morgenssterren.

[30] Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Geheimes Hausarchiv, 601, XXVI, Brief Herzog Philipps an seinen Vater Wilhelm V. vom 13.10.1593.