Phantastischer Realismus
Im Spätmittelalter wird die Grenze zwischen Jenseits und Diesseits auch im Bild immer stärker durchlässig und bleibt doch aufrecht. Singende oder Instrumente spielende Engel treten bei der Geburt Christi oder noch öfter gemeinsam mit der gekrönten „Himmelskönigin“ Maria auf, einzeln, in Gruppen oder ganzen Scharen. Sie scheinen den Betrachtern teilweise reale Musikinstrumente und Musiziersituationen vor Augen zu führen, so verführerisch „fotorealistisch“ und detailgetreu wirken die Oberflächen- und Lichteffekte der Kunst des 14. und namentlich des 15. Jahrhunderts (vgl. etwa die aus Mensuralnoten singenden Engel, » Abb. Pacheraltar St. Wolfgang).
Und doch ist es verfehlt, nach dem „Realismus“ des Dargestellten zu fragen. Engel sind, wie man wissen könnte, nicht der irdischen Realität unterworfen. Manche Bilder mögen Instrumentenkombinationen, also Ensembles darstellen, wie sie auch zeitgenössisch möglich gewesen wären. So zeigt ein aus Norddeutschland stammendes Altarbild der Madonna mit Kind und musizierenden Engeln die Zusammenstellung einer „basse musique“ von Laute, Harfe, Portativ und Fidel, vermutlich mit Gesang.[5] Andere überschreiten bewusst – und mit bewusster Symbolik – jedes irdische Maß, wie etwa das ins Endlose verschwebende Riesenensemble der Marienkrönung in der Wiener Kirche Maria am Gestade (» Abb. Maria am Gestade).[6] Manche scheinen an ausgelassenen Spielmannsensembles ihr Vorbild zu nehmen, andere verweisen auf die feierlichen Gebärden des kirchlichen Rituals.
[5] Madonna mit Kind und musizierenden Engeln, Szépművészeti Múzeum, Budapest. Ähnlich auch Stefan Lochners Madonna im Rosenhag (um 1450).
[6] Vgl. dazu Tammen 2014, 232–235; » C. Engelsmusik.
[1] Vgl. beispielsweise die – anhand eines zentralen Texts – übergreifende Untersuchung von Heilmann 2007.
[2] Riedweg 2002, 47.
[3] Die wichtigsten biblischen Stellen: Jesaia 6,1–4; Ezechiel, 3,12 f.; Lukas 2,13 f.; Apokalypse, 4,8 sowie 14,2 f. und 19,1, 4,6.
[4] Nach wie vor grundlegend: Hammerstein 1962. Vgl. auch » C. Engelsmusik sowie Tammen 2014 und die dort in den Fußnote 7 und 229 genannten weiteren Arbeiten.
[5] Madonna mit Kind und musizierenden Engeln, Szépművészeti Múzeum, Budapest. Ähnlich auch Stefan Lochners Madonna im Rosenhag (um 1450).
[6] Vgl. dazu Tammen 2014, 232–235; » C. Engelsmusik.
[7] Dazu Fallows 1983; Fallows 1985, v. a. 33; Nedden 1932/33, 31. Diese Belege zeigen vor allem den Gebrauch von „haute musique“, während die Engelskonzerte mit „basse musique“ vielleicht die Intimität einer häuslichen Aufführung suggerieren sollen.
[8] So der Theologe Gilles Carlier und andere, vgl. Fuhrmann 2014, 121–130.
[9] Fuhrmann 2014, 111–115.
[10] Fuhrmann 2014, 116–121 (dort auch weitere Literaturangaben).
[12] “Vsus tamen musice in ipsa celesti patria non modo ab his qui hic in ea minime sunt eruditi, uerum eciam ab edoctis erit multo dulcior, multo elegantior, multoque subtilior, quam hac in terrestri uita.” (Woodley 1985, 262).
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Fuhrmann: „Himmlische und irdische Musik“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/himmlische-und-irdische-musik> (2016).