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Hirten und Herde

Ute Monika Schwob

Sah sich die frühchristliche Gemeinschaft noch relativ einheitlich den Ungläubigen gegenüber gestellt, so verfestigte sich seit der Duldung und Förderung des Christentums durch Kaiser Konstantin I. (306–337) die Aufteilung in geweihte Amtsträger einerseits und zum Volk der Christgläubigen zählende, meist ungebildete Laien andererseits, beispielhaft dargestellt im Bild von Hirte und Herde.[1] Mittelalterliche Kleriker waren an ihrer spezifischen Lebensweise erkennbar; sie unterwarfen sich dem Zölibat, trugen Tonsur sowie charakteristische Kleidung und sprachen Latein als Sprache der Gebildeten. Auf Grund der ihnen verordneten Distanz zum Leiblichen und Materiellen wurden ihnen eine höhere moralische Qualität und ein erhöhter Rechtsschutz zugesprochen. Sie hatten Anteil am göttlichen Amt und an der Lehre vom Göttlichen, was mit festgeschriebenen Standespflichten verbunden war. Laien hingegen sollten materielle Güter besitzen, heiraten und persönliche Rechtsgeschäfte führen dürfen, dafür aber Opfergaben bringen, den Zehnt zahlen und sich in geistlichen Angelegenheiten den Vorschriften der Kirche unterwerfen. Das in der Taufe begründete, in Spätantike und Frühmittelalter noch teilweise praktizierte Laienapostolat wurde zunehmend auf religiös orientiertes Handeln im weltlichen Leben – in Familie, Beruf und Öffentlichkeit – verwiesen.

Diese Jahrhunderte lang weitgehend hingenommene Aufgliederung in zwei Lebensformen wurde allerdings im Lauf des Mittelalters mehrfach durch die Aktivierung von Laien unterlaufen, etwa in den Kreuzzügen sowie durch religiöse Bewegungen, insbesondere die Armutsbewegung. Infolgedessen wurde manchen Gruppen von Laien eine gewisse Angleichung an den Klerikerstand zugestanden, etwa den Religiosen beiderlei Geschlechts, den Konversen, Donaten, Laienbrüdern und Terziariern bestimmter Orden, den Beginen oder den Pilgern (» J. Formen der Laienfrömmigkeit). Weil Vertreter solcher Gruppen allzu begierig nach Vorrechten des Klerus griffen, etwa dem Recht zu predigen, wurden von der Kirche wiederholt neue Grenzlinien gezogen, um Häresien vorzubeugen und die grundsätzliche Autorität der Geistlichen zu wahren. Dies galt auch für die Eingrenzung von übertriebenen, in Wahn oder Aberglauben abgleitenden Frömmigkeitsübungen. Gegenüber häretischen Mystikern, freigeistigen Begharden und Beginen, sozialrevolutionären Pauperisten, chiliastischen oder vorreformatorischen Bewegungen wurden die Hirten zu unerbittlichen Glaubenswächtern. Sie bekämpften die überall und jederzeit vermutete Ketzerei mittels Inquisition und religiös-geistiger Isolierung; nur selten und zögerlich fanden sie sich bereit, Korrekturen am eigenen Verhalten vorzunehmen.

Den vielfältigen Problemen und Turbulenzen der mittelalterlichen Kirche zum Trotz gilt als sicher, dass alle, sonderlich die Laien, gläubig waren, dass Gottesfurcht sowie Gottes- und Marienminne vor allem im Spätmittelalter inbrünstig gepflegt wurden und dass in den unterschiedlichsten Lebensentwürfen stets religiöse Hingabe, persönliche Andacht und Frömmigkeitsübungen enthalten waren. Das reichhaltige Angebot der Kirche wurde von den Laien angenommen.

[1] Als ikonographischer Bildtypus ist der „gute Hirte“ vor allem dem frühen Christentum geläufig; aber noch heute wird der vierte Sonntag nach Ostern als „Gut-Hirten-Sonntag“ gefeiert (Joh 10, 1–30).