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Ein Panoptikum des mittelalterlichen Liedes

David Murray

Die siebenundfünfzig weltlichen Lieder, die dem Mönch von Salzburg zugeschrieben werden, bilden eines der bedeutendsten Korpora des deutschen Volksliedes im Spätmittelalter. [1] Sie bilden die eine Hälfte eines umfangreichen Œuvres, dessen Rest aus neunundvierzig religiösen Liedern besteht, von denen viele Übersetzungen lateinischer Sequenzen und Hymnen sind (siehe » B. Geistliche Lieder des Mönchs von Salzburg).[2] Die weltlichen Lieder bestehen aus sieben mehrstimmigen Kompositionen - der frühesten notierten volkstümlichen weltlichen Mehrstimmigkeit im deutschen Sprachraum - und fünfzig einstimmigen Stücken. Sechzehn der einstimmigen Stücke haben eine sich wiederholende Form, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der Ballade aufweist, die aber höchstwahrscheinlich nicht von den zeitgenössischen französischen Formes fixes abstammt.[3] (» Kap. The Monk’s Refrain Songs).Vierundzwanzig der einstimmigen Stücke haben eine strophische Form ohne Stollen, von denen drei in der Mondsee-Wiener Handschrift als „Tenor“ bezeichnet werden (» Abb. Ich klag dir, traut gesell).

 

 

Obwohl die Melodien dieser Stücke durchkomponiert sind, trifft dies nicht unbedingt auf die Texte zu, die eine Vorliebe für ausgefeilte Reimschemata zeigen und oft sogar so etwas wie eine Taktform verwenden. Diese Diskrepanz hat Reinhard Strohm zu der Vermutung veranlasst, dass „Tenor“ eigentlich eine Melodie impliziert, die ohne Worte übermittelt wurde und nach Belieben mit Worten unterlegt werden konnte. [4] Die übrigen weltlichen Lieder haben eigenwillige Formen, die sich einer Klassifizierung entziehen. Der Mönch nutzt diese Formen, um Lieder zu schaffen, die sich mit verschiedenen Themen befassen, darunter das Leben der Höflinge sowie die Probleme der Liebenden, vor allem die Trennung und die klaffer, die Leute, die am Hof Gerüchte verbreiten. Einige Lieder, wie die mehrstimmigen Martinslieder W54* Wolauf, lieben gesellen unverczait und W55* Martein, lieber herre und Neujahrslieder wie W29 Ain gelügkleich iar nach deiner gier, sind an bestimmte Jahreszeiten oder Feste gebunden, aber die meisten sind nicht anlassbezogen.

This article was written in the context of the ERC project ‘Music and Late Medieval European Court Cultures’ at the University of Oxford. This project has received funding from the European Research Council under the European Union’s Horizon 2020 research and innovation programme (grant agreement no. 669190).

[1] Edition: März 1999. März gives a complete edition of the text and music of the secular songs as well as extensive commentary and interpretations for every piece. His edition is also valuable for reproducing ill-accessible manuscript sources. “W” numbers in the following refer to this edition.

[2] For the religious songs, see the edition Spechtler 1972 for the text. “G” numbers in the following refer to this edition. Spechtler’s edition should be used alongside the corrections proposed in Wachinger 1989. For the music of the religious songs, see Waechter 2004.

[3] On these refrain songs, which Christoph März labelled “Virelai/Ballade”, see März 1999, 19–30, and Lewon 2018, 223–225.

[4] See Lewon 2018, 225.