Das Cembalo als Teil der Musikkultur seit 1400
Die Erfindung des Cembalos, die Hermann Poll sich nach der Aussage Lambertazzis zuschrieb, ist in der Literatur bisher eher instrumentenkundlich als kulturhistorisch diskutiert worden. Aber nicht nur die Klassifikation des damals vorhandenen Instruments ist relevant, sondern auch die Person und der Wirkungskreis des Erfinders, die Produktion und Verwendung des Instruments, die Glaubwürdigkeit und Häufigkeit der Zeugnisse, die Eindeutigkeit der Nomenklatur. Obwohl der Astronom und Instrumentenbauer Henri Arnaut de Zwolle in seinem berühmten Traktat (um 1440) dem von ihm als clavisimbalum bezeichneten Instrument mehrere Arten der Aktion zuschreibt, hat Howell betont, dass diese nicht alle wirklich gebaut worden sein müssen.[14] Davon abgesehen erweist sich die Nomenklatur des von Lambertazzi 1397 erwähnten clavicembalum als konsistent: Es ist (mit Ausnahme von Arnauts Traktat) kein Fall bekannt geworden, in dem z. B. zwei Instrumente mit verschiedener Aktion tatsächlich beide als clavicembalum bezeichnet worden wären oder dass umgekehrt ein und derselbe Instrumententyp mit der nachmals bekannten Aktion (Anzupfen durch Federkiele) und Bauform (freilaufende Saiten ohne verschiebbare Stege oder variierte Anzupfstellen) in verschiedenen Quellen verschiedene Namen getragen hätte.[15]
Im Jahr 1404 schrieb der Mindener Kleriker Eberhard von Cersne seine Lehrdichtung Der Minnen Regel (erhalten in » A-Wn Cod. 3013), in der er die drei Instrumente clavichord, exchequier (Schachpret) und clavicembalum separat unter anderen Instrumenten erwähnt, ihre Namen also nicht als Synonyma gebraucht.[16] Als die erste bildliche Darstellung des clavicembalum wird ein um 1425 entstandenes Altarrelief anerkannt, das für den Hochaltar des Domes von Minden (Westfalen), Cersnes Heimatstadt, angefertigt wurde.[17] » Abb. Mindener Altarrelief (Detail).
Die soziale und musikgeschichtliche Rolle des Instruments hängt zusammen mit der bedeutenden Entwicklung eines privaten Musikbereichs in den Jahrzehnten um 1400, vor allem an den Höfen, und mit der allmählich wachsenden schriftlichen Überlieferung von Musik für private Tasteninstrumente jeder Art, vom exchiquier und Clavichord bis zum Orgelportativ (» C. Musik für Tasteninstrumente). Eine fast verblüffende Koinzidenz mit Polls Auftreten scheinen mehrere Aufzeichnungen aus Norditalien in früher italienischer Tabulatur darzustellen – wie z. B. ein Fragment aus dem Paduaner Kloster S. Giustina, datierbar um 1400 (Padua, Archivio di Stato, I-Pas Ms.S. Giustina 553).[18]
Zwei Tabulatureintragungen im sogenannten Codex Reina (» F-Pn nouv. acq. fr. 6777; Padua oder Veneto, ca. 1410) dürften ebenfalls mit der Beliebtheit privater Tasteninstrumente in Norditalien zusammenhängen. Die umfangreichste erhaltene Quelle dieser Art, der Codex Faenza (» I-FZc Ms. 117), angefertigt um 1410–1420,[19] war wahrscheinlich für eine Hausorgel bestimmt. Charakteristisch für die Überlieferung der frühesten Klaviermusik ist die Mischung geistlicher und weltlicher Spielvorlagen, einschließlich genuin instrumentaler Gattungen wie der istampita (estampie). Im deutschsprachigen Gebiet folgt ein Überlieferungsschub um 1440 (» C. Musik für Tasteninstrumente und » C. Engelsmusik). Dass Hermann Poll selbst in Wien oder im Gebiet des heutigen Deutschland zu einer andauernden Praxis oder gar Repertoirebildung beigetragen hätte, lässt sich nicht beweisen, doch ist am pfälzischen Hof König Ruprechts (†1410) und seiner Nachfolger sowohl mit einer Hofkantorei, als auch dem Gebrauch privater Tasteninstrumente zu rechnen.[20]
[14] Howell 1990, 11–12.
[16] Cersne 1861, 23–24, mit den Versen 403–419 über die Vogelmusik. Vgl. auch Pirro 1940, 27ff.; Strohm 2007.
[17] Eine Identifizierung des Mindener Instruments als clavichord (Ripin, Edward M., u. a.: Art. „Clavichord“, in: Grove Music Online, URL: https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.article.05909 [26.4.2014]) ist wegen der Flügelform (zum Unterbringen ansteigender Saitenlängen) unwahrscheinlich. Dieselben Autoren (Ripin, Edward M., u. a.: Art. „Harpsichord“, in: Grove Music Online, URL: https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.article.12420 [15.11.2014]) identifizieren die Abbildung im Mindener Relief überzeugender als Cembalo.
[18] Bertoldi, Donata: Problemi di notazione e aspetti stilistico-formali in una intavolatura organistica padovana di fine trecento, in: L’Ars nova italiana del trecento 5 (1985), 11–27 (mit Faksimile und Übertragung); Strohm 1993, 90–92.
[20] Pietzsch 1966, 51f.
[1] “Magister Armannus doctor artium, qui fuit socius tui magistri Iohannis, juvenis bone conversationis et bonorum morum, ingeniosus multum et inventor unius instrumenti, quod nominat clavicembalum, accedit Papiam recepturus conventum in medicina simul cum tuo magistro Iohanne sub magistro Marsilio estate futura. Dixit quidem michi quod, cum prima die simul intrassent, promiserunt invicem, quod simul gradum assumerent; postea est leges vel canones auditurus.” (Segarizzi 1907, 224) Erste Erwähnung in musikhistorischer Literatur bei Pirro 1931, 51. Polls Bedeutung für die Geschichte der Tasteninstrumente ist geschildert in Howell 1990, 1–17. Sein Verhältnis zu privater Musikpraxis behandelt Strohm 1991, 53–66.
[2] Segarizzi 1907, 224.
[3] Segarizzi 1907, 226f.
[4] Hierzu vor allem Howell 1990, 8–9.
[5] Howell 1990, 8.
[6] Howell 1990, 9 und Anm. 43, nach Uiblein 1978, 180, Anm. 49.
[7] Volta, Zanino: Dei gradi accademici conferiti nello “studio generale” di Pavia sotto il dominio Visconteo, in: Archivio Storico Lombardo 2 (1890), 517–584, hier S. 542. Noch im selben Jahr 1397 verlegte Gian Galeazzo Visconti das studio nach Piacenza.
[8] Howell 1990, 1–8. Der Autor nennt als Beispiele für diese Bildungsrichtung Peter von Abano (†1315), Giorgio Anselmi (c. 1386–c. 1440), Henri Arnaut de Zwolle (c. 1400–1466) und Paulus Paulirinus (1413–c. 1471). Hinzuzufügen ist etwa Rudolf Volkhardt von Häringen (»A. Klösterliche Mehrstimmigkeit), der in Regensburg, Wien und München tätig war.
[9] Strohm 1991, 57f., mit Erwähnung assoziierter Musiker und ihrer z. T. politisch relevanten Kompositionen.
[10] Lateinischer Originaltext bei Strohm 1991, 65, Anm. 33.
[11] „Physicus virtuosus, formosus, bene dispositus, habens tunc 31 annos in etate et magister artium valens, bene litteratus et doctor in medicinis, optimus musicus in organis et in aliis quibusdam instrumentis musicalibus“. Nach Grob, Jacob: Bruchstücke der Luxemburger Kaiserchronik des deutschen Hauses in Luxemburg, in: Publications de la Sectio Historique de l’Institut Grand-Ducal de Luxembourg 52 (1903), 390–406; Hinweis auf diese Quelle in Pietzsch 1966, 51f.
[12] Gemeint ist das heutige Gornji Grad in Krain/Slowenien, damals den Grafen von Cilli gehörig.
[13] Vgl. die Quellenberichte bei Howell 1990, 10, und Strohm 1991, 59–61.
[14] Howell 1990, 11–12.
[16] Cersne 1861, 23–24, mit den Versen 403–419 über die Vogelmusik. Vgl. auch Pirro 1940, 27ff.; Strohm 2007.
[17] Eine Identifizierung des Mindener Instruments als clavichord (Ripin, Edward M., u. a.: Art. „Clavichord“, in: Grove Music Online, URL: https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.article.05909 [26.4.2014]) ist wegen der Flügelform (zum Unterbringen ansteigender Saitenlängen) unwahrscheinlich. Dieselben Autoren (Ripin, Edward M., u. a.: Art. „Harpsichord“, in: Grove Music Online, URL: https://doi.org/10.1093/gmo/9781561592630.article.12420 [15.11.2014]) identifizieren die Abbildung im Mindener Relief überzeugender als Cembalo.
[18] Bertoldi, Donata: Problemi di notazione e aspetti stilistico-formali in una intavolatura organistica padovana di fine trecento, in: L’Ars nova italiana del trecento 5 (1985), 11–27 (mit Faksimile und Übertragung); Strohm 1993, 90–92.
[20] Pietzsch 1966, 51f.
Empfohlene Zitierweise:
Reinhard Strohm: „Hermann Poll“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/hermann-poll> (2016).