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Zur städtischen Liedkultur

Reinhard Strohm

Geistliche und weltliche Lieder waren in der städtischen Kultur überregional verbreitet. Historische und “volkstümliche” Lieder zirkulierten mündlich und in Handschriften, später zudem in gedruckten Flugblättern und Liedersammlungen. Sie wurden in Schulen gelehrt, wie z.B. von dem Oberpfälzer Wolfgang Schmeltzl, Schulmeister des Wiener Schottenklosters, der 1544 seine Liedersammlung herausgab, die er “im landt Osterreich und anderßwo” gesammelt hatte (» B. “Volkslieder”; » B. Lieder 1450–1520). Geistliche Lieder erklangen nicht nur in Kirchen und Klöstern, sondern dienten auch der Stadtbevölkerung, sei es privat[32] oder bei öffentlichen Spielen (» H. Musik und Tanz). Die geistlichen und weltlichen Lieder, die in den sogenannten “Korpushandschriften” des Mönchs von Salzburg gesammelt wurden (» B. Geistliche Lieder des Mönchs), fanden auch in bürgerlich-städtischen Kreisen Verwendung, z.B. in der Mondsee-Wiener Liederhandschrift (A-Wn Cod. 2856), die um 1465 dem Salzburger Goldschmied Peter Spörl gehörte.[33] Mehrstimmige Liedsätze hätten kaum so früh und reichlich in Flugblättern gedruckt werden können (» B. Kap. Wandel der höfischen und städtischen Liedpraxis), wenn nicht bereits vor 1500 ein zahlendes Abnehmertum für Liedabschriften (obwohl oft nur der Texte) bestanden hätte. Wichtige Druckorte für Liederbücher waren in den Jahren 1512–1517 Augsburg, Mainz und Köln, wo auch aus Österreich stammendes Repertoire weiterverbreitet wurde (» B. Kap. Liederdrucke). Schließlich war das bürgerliche Musikleben durch die Tradition des Meistergesangs und der Singschulen an der Liedproduktion und -pflege beteiligt, obwohl die Zentren dieser Praxis im 15. Jahrhundert weniger im österreichischen als im süddeutschen Raum (Nürnberg, Augsburg, Speyer, Straßburg) lagen.

Die Universität unterstand in rechtlicher Hinsicht nicht der Stadtverwaltung, jedoch belebten ihre Mitglieder das städtische Musikleben in vielfacher Weise, nicht zuletzt in Gottesdiensten und Prozessionen. Universitätsstudenten pflegten oft in ihrer Jugend Musik, gaben sie aber nicht selten später aus sozialen Rücksichten auf, wie z.B. der Nürnberger Hartmann Schedel und der Basler Bonifatius Amerbach.[34] Die Bürgerschaft wurde oft zum Publikum des weltlichen Musizierens von Schülern und Studenten, sei es gewollt oder ungewollt (» B. Kap. Streuüberlieferung von Liedern im Kontext der Universität). Dafür gibt es auch eher humoristische Belege, wie z.B. einen Holzschnitt von 1489 (» Abb. Musikalische Darbietung von Scholaren).[35] Reiche Studenten konnten ärmere als Musiker engagieren, um ihrer verehrten Dame ein Ständchen zu bringen.

 

Abb. Musikalische Darbietung von Scholaren

Abb. Musikalische Darbietung von Scholaren

Archiv der Universität Wien, Bildarchiv Holzschnitt. Signatur Bestandgeber 106.I.297. Gezeigt werden drei Musiker mit Blockflöten und vielleicht einer Schalmei, zwei kleine Sänger (Chorknaben?), die aus einem Musikbuch singen, und ein vermutlich führender Lautenspieler.

Probleme damit hatte anscheinend der kaiserliche Sekretär Enea Silvio Piccolomini, denn in seiner notorisch gewordenen, kritischen Beschreibung Wiens schreibt er:

“Die Studenten selbst geben sich dem Genuss hin; sie sind trink- und fresssüchtig. Wenige gelangen zur Bildung und sie werden auch nicht im Zaum gehalten; bei Tag und Nacht schweifen sie umher und bereiten den Bürgern große Unannehmlichkeiten, wozu die Keckheit der Frauen sie ermutigt.”[36]

Piccolomini bezieht sich hier nicht nur auf akustische Störungen, sondern auch auf Streit und Schlägereien zwischen Bürgern und Studenten, wie sie öfters vorkamen.

Es gibt ähnliche Abbildungen und Nachrichten über musizierende Studenten u.a. aus Tübingen und Freiburg (» Abb. Singende Studenten), in scherzhafter Manier oder im Kontext von Universitätsverboten.[37] Die angeblich von 1350 (aber wohl eher 1450) stammende Schulordnung der Stadt Eger/Cheb (Nordböhmen) expliziert:

“Item so sullen die gesellen die auf schule ligen vnd auch andere schreyber mit iren quintern lawten noch fideln noch mit anderm geschrey des nachtes nicht auf der strassen gehen.”[38]

[32] So bezeugt von Stephan von Landskron (1465): » B. Kap. Betrachtung und Gebet.

[33] Zu Peter Spörl vgl. Welker 2005, 79.

[34] Über die Frage des Zusammenhangs zwischen Studium und Liederbuch vgl. Kirnbauer 2001. Das sogenannte “Rostocker Liederbuch” (»D-ROu Mss. phil. 100/2) aus dem 3. Viertel des 15. Jahrhunderts, mit 60 meist weltlichen Liedern, wird von der Forschung einhellig als Universitätshandschrift angesehen. 

[35] Denk 2015.

[36] “Ceterum studentes ipsi voluptati operam prebent, vini cibique avidi. pauci emergunt docti neque sub censura tenentur, die noctuque vagantur magnasque civibus molestias inferunt. ad hec mulierum procacitas mentes eorum alienat.” Wolkan 1909, Bd. 61, Nr. 27, 82. Statt Wolkans Datierung dieses Briefes, ca. 1438, schlägt Alphons Lhotsky wohl richtiger ca. 1450/1451 vor; vgl. Lhotsky 1965136f. Vgl. auch » E. Musik in der Universität.

[37] Detaillierte Auskünfte über die Liedpflege an der Universität Prag, mit Anmerkungen auch zu Wien und Heidelberg, bietet Ciglbauer 2017, 71–84.

[38] Müller 1885, 23. Die Egerer Schule ist nach Müller seit 1289 belegt; sie unterstand der Stadt und zugleich dem Haus des Deutschen Ordens.