Verbreitung und Bedeutung des cantus fractus
Der einstimmige Kirchengesang des lateinischen Ritus, der sogenannte “Gregorianische Choral”, hat in seiner zweitausendjährigen Geschichte zahlreiche Wandlungen formaler, stilistischer und aufführungspraktischer Art durchgemacht. Erst in jüngerer Zeit hat sich die Musikforschung mit der enormen Variationsbreite der Traditionen, Repertorien und liturgischen Aufführungsweisen in den vielen örtlichen Kirchen beschäftigt. Unterschiede gibt es nicht nur zwischen den Diözesanriten, den monastischen Orden oder etwa zwischen römischem und ambrosianischem Gesang, sondern sogar innerhalb des Ritus der römischen Kirche (secundum consuetudinem curiae Romanae). Einer der Aspekte, die erst jetzt genauer untersucht werden, betrifft eine Gruppe von Gesängen, die seit dem Ende des 13. Jahrhunderts in einer Art mensuraler Notation aufgezeichnet wurden, also mit genauer Fixierung der Notenwerte. Diese werden unter dem Stichwort cantus fractus zusammengefasst.[1] Man empfand diese abmessbare Rhythmisierung als deutlich verschieden von einer frei rhythmischen Vortragsart, in der die Notendauern und das Tempo unmerklich variiert wurden. Beispiele des cantus fractus finden sich vor allem bei Credomelodien, bei einigen Hymnen und Sequenzen und mit der Zeit bei anderen Gesängen des Messordinariums wie Kyrie, Gloria, Sanctus und Agnus. Im 18. Jahrhundert schließlich gab es in ganz Europa Choralbücher für das Messordinarium (Kyriale), vor allem bei den Franziskanern, die vollständig im cantus fractus notiert waren; in Italien nannte man sie “cantorie”. Der Stil des cantus fractus ist nicht auf den liturgischen lateinischen Gesang beschränkt, sondern findet sich auch bei vielen geistlichen Liedern, die in der Region Österreich verbreitet waren, wie z. B. der Leise Christ ist erstanden (» B. Das geistliche Lied; » B. SL Christ ist erstanden).
[1] Der Begriff “cantus fractus” (gebrochener Gesang) entstand spätestens im 13. Jahrhundert und bezeichnet die Unterteilung voller Notenwerte („integer valor“) in genau abgemessene Teile.
[1] Der Begriff “cantus fractus” (gebrochener Gesang) entstand spätestens im 13. Jahrhundert und bezeichnet die Unterteilung voller Notenwerte („integer valor“) in genau abgemessene Teile.
[2] Faksimile in Väterlein 1982.
[3] Miazga 1976. Zu böhmischen Quellen vgl. Hlávková-Mráčková 2016.
[4] Gozzi, Marco: I prototipi del canto fratto: Credo regis e Credo cardinalis, in: Gozzi 2012, 137–154; Gozzi 2006.
[5] Melodieincipit bei Miazga 1976, Nr. 123, 58. Übertragung in Strohm 1993, 324.
[6] Verzeichnet bei Bosse 1955, Nr. 39. Liste der Überlieferungen mit Faksimile und Transkription in Sette 2012. Zu den Konkordanzen Neustift/Novacella, Biblioteca dell’Abbazia (I-NV Cod. 139, fol. 79v), vgl. die Wiedergabe bei Engels 2001, 309.
[7] Vgl. Gozzi, Marco: Prefazione, in: Gozzi 2012, 23–40.
[8] Speziell zu Bozen vgl. Obermair 2004; Paoli 1999, 66f.
[9] I-VIP, Handschriften Vigil Rabers (II-XXII). Edition der Texte und Melodien bei Lipphardt/Roloff 1980–1996, Bd. 1. Kurze Inhaltsbeschreibungen bei Bergmann 1984. Vgl. auch » H. Musik und Tanz in Spielen; » H. Sterzinger Spielarchiv.
[10] Vgl. Obermair 2004.
[11] Wackernell 1897, CIII-CIX.
[12] Vgl. Obermair 2004; Paoli 1999.
[13] Weitere Beispiele und Beschreibungen der “Silete”-Rufe: » A. Dorotheenspiel; » H. Musik und Tanz in Spielen; » H. Sterzinger Spielarchiv. Vgl. auch Strohm 1993, S. 344.