Cantus fractus in verschiedenen liturgischen Gattungen
Sehr bald ging der Stil des von einer zweiten Stimme begleiteten cantus fractus vom Credo auf das Gloria über. Ein bekanntes, weit verbreitetes Beispiel ist ein Gloria mit dem Tropus Spiritus et alme. [6] Im St.-Emmeram-Codex (» D-Mbs Clm 14274) finden sich auch zwei einstimmige Kyrie in Mensuralnotation (fol. 21r und fol. 22r), die die Verbreitung des cantus-fractus-Stils auf alle Ordinariumsgesänge belegen. Während das erste dieser beiden Kyrie die reguläre, international verbreitete Mensuralnotation zeigt (z. B. mit rhythmisch festgelegten Ligaturen und den gewöhnlichen Mensurzeichen), besitzt das zweite Kyrie (» Abb. Kyrie St.-Emmeram-Codex; » Notenbsp. Kyrie St.-Emmeram-Codex) nur zwei verschiedene Notenwerte.
Der längere Wert (in der Transkription als halbe Note wiedergegeben), ist im Original als doppelter Punkt auf derselben Tonhöhe (bistropha, bipunctus) dargestellt. Es handelt sich um eines der vielen Mittel, mit denen die Notation des einstimmigen Chorals zur Darstellung messbarer Notenwerte umfunktioniert wurde. Im cantus fractus gibt es viele Notationstypen zur Nachahmung von Mensuralmusik. [7]
Außer auf das Credo und andere Ordinariumsgattungen wurde der cantus fractus auf liturgische Sequenzen und Hymnen angewandt. Möglicherweise war die mensurale Ausführung solcher Gesänge mit metrischem Text sogar die Norm, selbst wenn die Notation nichts über den Rhythmus aussagt.
[6] Verzeichnet bei Bosse 1955, Nr. 39. Liste der Überlieferungen mit Faksimile und Transkription in Sette 2012. Zu den Konkordanzen Neustift/Novacella, Biblioteca dell’Abbazia (I-NV Cod. 139, fol. 79v), vgl. die Wiedergabe bei Engels 2001, 309.
[7] Vgl. Gozzi, Marco: Prefazione, in: Gozzi 2012, 23–40.
[1] Der Begriff “cantus fractus” (gebrochener Gesang) entstand spätestens im 13. Jahrhundert und bezeichnet die Unterteilung voller Notenwerte („integer valor“) in genau abgemessene Teile.
[2] Faksimile in Väterlein 1982.
[3] Miazga 1976. Zu böhmischen Quellen vgl. Hlávková-Mráčková 2016.
[4] Gozzi, Marco: I prototipi del canto fratto: Credo regis e Credo cardinalis, in: Gozzi 2012, 137–154; Gozzi 2006.
[5] Melodieincipit bei Miazga 1976, Nr. 123, 58. Übertragung in Strohm 1993, 324.
[6] Verzeichnet bei Bosse 1955, Nr. 39. Liste der Überlieferungen mit Faksimile und Transkription in Sette 2012. Zu den Konkordanzen Neustift/Novacella, Biblioteca dell’Abbazia (I-NV Cod. 139, fol. 79v), vgl. die Wiedergabe bei Engels 2001, 309.
[7] Vgl. Gozzi, Marco: Prefazione, in: Gozzi 2012, 23–40.
[8] Speziell zu Bozen vgl. Obermair 2004; Paoli 1999, 66f.
[9] I-VIP, Handschriften Vigil Rabers (II-XXII). Edition der Texte und Melodien bei Lipphardt/Roloff 1980–1996, Bd. 1. Kurze Inhaltsbeschreibungen bei Bergmann 1984. Vgl. auch » H. Musik und Tanz in Spielen; » H. Sterzinger Spielarchiv.
[10] Vgl. Obermair 2004.
[11] Wackernell 1897, CIII-CIX.
[12] Vgl. Obermair 2004; Paoli 1999.
[13] Weitere Beispiele und Beschreibungen der “Silete”-Rufe: » A. Dorotheenspiel; » H. Musik und Tanz in Spielen; » H. Sterzinger Spielarchiv. Vgl. auch Strohm 1993, S. 344.