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Trugspuren

Sonja Tröster

Das Charakteristikum der Streuüberlieferung ist für sich genommen selbstverständlich kein Garant dafür, dass Lieder notwendigerweise im Alltag weiter Bevölkerungsschichten verankert gewesen wären. Unter den verstreuten Funden in österreichischen Bibliotheken befinden sich auch Lieder, die an anderen Orten sehr wohl im Kontext von dezidierten Liedsammlungen auftreten. Dennoch stellt sich die Frage, was die Streuüberlieferung über die Lieder aussagen könnte.

Der Codex » A-Gu Cod. 1405, eine Handschrift mit vorwiegend kirchlichen lateinischen Schriften aus dem 14. und 15. Jahrhundert, enthält zwei in den Band eingeklebte Pergamentblätter mit der Aufzeichnung von zwei Liedern (fol. 130d und 132cd). Beide sind mit Notation versehen und wurden von Hellmut Federhofer in Übertragungen und mit einer Abbildung veröffentlicht.[38] Federhofer konnte feststellen, dass eines der beiden Lieder Textkonkordanzen im sogenannten „Liederbuch der Clara Hätzlerin“ (» CZ-Pn X A 12) und verwandten Handschriften (u.a. Bechsteins Handschrift » D-LEu Ms. Apel 8 [39]) aufweist.[40] Bemerkenswert an der Grazer Quelle A-Gu Cod. 1405 ist, dass sie die beiden Lieder Das wetter het verkeret sich und Ich trag ein hercz, das ist genaigt als einzige der genannten Quellen mit Melodie überliefert.

 

Das wetter het verkeret sich ist eine Liebesklage, in der der Natureingang die Gemütsverfassung des Protagonisten widerspiegelt (» Notenbsp. Das wetter het verkeret sich).[41] Das Lied besitzt sicherlich keine Charakteristika, die eine Bezeichnung als „Volkslied“ rechtfertigen würden; es stellt ein Zeugnis der urbanen Kulturpflege dar.[42] Dennoch ist die geographische und zeitliche Streuung der Fundstellen[43] (von Mitte des 15. Jahrhunderts bis um 1530) bemerkenswert.

Ein ähnliches Beispiel bietet die Handschrift » A-Wn Cod. 4989 der Österreichischen Nationalbibliothek aus dem 14. und frühen 15. Jahrhundert, die über das Kloster Mondsee nach Wien gelangte.[44] Den Hauptteil der Sammelhandschrift bilden verschiedene lateinische Traktate, aber auf fol. 154v ist das Lied Frewtleichen hab ich geschaiden mich mit Notation der Melodie eingetragen (»Notenbsp. Frewtleichen hab ich geschaiden mich).[45] Der Eintrag dürfte bereits aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts stammen und ihm folgt noch auf derselben Seite – von anderer Hand und mit dunklerer Tinte geschrieben – ein zweistimmiges Venerari matrem sanctam, das in schwarzer Mensuralnotation notiert ist. Das deutschsprachige Lied ist mit einem instrumentalen Vorspiel aufgezeichnet, was daraus ersichtlich wird, dass die Zuordnung von Textabschnitten zu den Noten mithilfe senkrechter Striche angegeben ist. Ob Melodie und Text vollständig aufgezeichnet sind, ist zunächst unklar; die metrische Textgestaltung weicht in den ersten zwei Zeilen gegenüber den folgenden etwas ab. Mit wenigen Freiheiten ist es jedoch möglich, den Text der Melodie zu unterlegen.

frewtleich[e]n hab ich geschaid[e]n mich
von der liebst[e]n fraw[e]n mein.
Die zeit von zeit die lenget sich,
das ich so lang můz an sei sein.
das machet mich an frewd[e]n swach,
daz ich so lang vermeid[e]n můs.

 

Auch dieses Lied besitzt melodielose Konkordanzen in Handschriften mit Liedabschnitten aus dem 15. Jahrhundert.[46] Die Textfassung weicht in diesen Handschriften an mehreren Stellen von derjenigen in der Wiener Handschrift ab. Vor allem das erste Wort erscheint übereinstimmend als zweisilbiges „Fruntlich“, so dass die metrische Anlage dieser Zeile mit den Folgezeilen übereinstimmt. Zudem stellt sich heraus, dass der in A-Wn Cod. 4989 überlieferte Text nicht einmal die gesamte erste Strophe des Liedes wiedergibt, es fehlen zwei Zeilen. In der Parallelüberlieferung umfasst der Liedtext sogar drei Strophen. Auch diese Liebesklage ist nicht als „Volkslied“ einzuordnen, sondern stellt ein weiteres Beispiel urbaner Liedkultur dar, wie sie vielleicht auch in Österreich gepflegt wurde.

[38] Federhofer 1996.

[39] Digitalisat unter http://digital.bibliothek.uni-halle.de/hd/content/titleinfo/1689049.

[40] Das wetter het verkeret sich: » CZ-Pn X A 12, fol. 299v; D-LEu Apel 8, fols. 361v–362r; D-B Mgf 488, fol. 230r–v; D-Mbs Cgm 379, fol. 116r–v. Das Liedinitium ist verzeichnet in D-Mbs Cgm 5919, fol. 297r; das Lied erschien auch in dem heute nicht mehr existierenden Fichard’schen Liederbuch.

[41] Kern 2005, insb.  375–382.

[42] Siehe hierzu Knor 2008, 122 (Nr. 166).

[43] Vgl. die Zusammenstellung bei Zimmermann 1982, 291 (Nr. 26).

[44] Klugseder 2012, 266.

[45] Vgl. Menhardt 1961, 1084f.

[46] » D-Mbs Cgm 379 („Augsburger Liederbuch“), fol. 123r–v; D-DS Hs. 2225, fol. 80v. Das Liedinitium ist aufgezeichnet in D-Mbs Cgm 5919, fol. 297r. Vgl. Zimmermann 1982, 289f. (Nr. 21).