You are here

Sechs Kantionalien: Bücher mit cantus figuratus

Reinhard Strohm

In den Bestimmungen des Testaments von Johannes Lupi findet sich der folgende aufschlussreiche Passus:

„Item lego et ordino Ecclesie parochiali Beate Marie virginis in Bolzano et hoc pro fabrica omnia cancionalia vel figuratus cantus quos habeo in omni potestate mea qui sunt sex libri magni et parvi.“[5]

(Ebenso verschreibe und vermache ich der Pfarrkirche der seligen Jungfrau Maria in Bozen, und zwar der Kirchenfabrik, alle Kantionalien oder figurierten Gesänge, die ich in meinem Besitz habe; es sind sechs große und kleine Bücher.)

                                                                                              

„Kantionalien“ – wie sie um etwa dieselbe Zeit auch am Wiener Stephansdom als Musiziervorlagen der Chorschüler erwähnt sind (» E. Musik im Gottesdienst) – waren Musikbücher, die im Rahmen der Chorschule vor allem zu Hochfesten für ad libitum-Aufführungen von gestifteten Messen, Salve regina-Andachten, Prozessionen und anderen Zeremonien dienten.[6] Nach Lupis Worten enthielten seine Kantionalien cantus figuratus, d. h. kunstvolle mehrstimmige Sätze.[7] Es kann kaum ein Zweifel bestehen, dass diese sechs „großen und kleinen“ Bände zumindest mit einzelnen Teilen der später anders zusammengebundenen Trienter Codices » I-TRbc 87 und » I-TRbc 92 identisch sind. Eines von Lupis Kantionalien könnte der erste Teil der heute erhaltenen Handschrift I-TRbc 87 sein, der von Lupis Hand um 1440 geschrieben wurde.

 

Abb. Codex Trient 87

Die dreistimmige Sequenz Laus tibi Christe auf St. Maria Magdalena von Johannes Roullet in Codex Trient 87 (» I-TRbc 87 = MS 1374, fol. 67v), notiert von Johannes Lupi (ca. 1440). Mit Genehmigung des Museo del Castello di Buonconsiglio. Monumenti e collezioni proviniciali, Trento.

(» Hörbsp. ♫ Laus tibi, Christe)

 

Dass Lupi als professioneller Musiker seine gesamten Aufzeichnungen mehrstimmiger Musik nicht dem Dom von Trient vermachte – wo er seinen täglichen Dienst ausübte –, sondern der Bozner Pfarrkirche, kann nur bedeuten, dass er ihre sachgerechte musikalische Verwendung dort für sichergestellt hielt.

[5] Wright 1986, 266.

[6] Vgl. Strohm 2014, 25–26.

[7] Das Wort “figuratus” (figuriert) bezeichnet in der Terminologie des Mittelalters und der frühen Neuzeit nicht einen mit Figuren oder Koloraturen ausgezierten Gesang, sondern einen mit besonderen Figuren, d. h. Mensuralnoten, aufgezeichneten Gesang. Der Gegensatz zum cantus figuratus ist der cantus planus, der einstimmige Choral.