Stadtmusik: Von der Aura zur Geschichte
“Städte waren durch Mauern abgeschirmte und durch Türme überhöhte Bezirke eines geregelten Lebensablaufes. Darin unterschieden sich die Kapitalvermögen hortenden Reichsstädte mit Fernhandelsbeziehungen nicht von den ländlich geprägten Kleinstädten. In ihren Gebäuden wie im Freien war Musikalisches im weitesten Sinne Tag und Nacht präsent. Den Städten war eine eigentümliche Klangaura zu eigen, die alle Tätigkeiten und Stationen des Lebens der Bürger anging. Musik galt hier nicht nur als ein austauschbarer Schmuck des Daseins, vielmehr war das Musizieren in vielerlei Zweckbezügen nützlich und notwendig. Die davon ausgehende ästhetische Wirkung war nur eine unter mehreren, gab es doch auch eine therapeutische, eine propädeutische, eine religiöse, eine repräsentativ beeindruckende. Musikalische Tätigkeiten dienten – von Ratstrompetern oder der Stat schilt (Nürnberg 1485) tragenden Stadtpfeifern ausgeführt – als akustische Wahrzeichen dem Zeremonialbedürfnis von Stadträten ebenso wie der Regelung der Arbeitszeiten, der Kurzweil, ad laudem Dei, der Integrierung von Gruppen wie den Bruderschaften, Gilden, Zünften, Gesellenvereinigungen und etlichen anderen Zwecken mehr.”[1]
Walter Salmens Entwurf einer Klang-Aura der spätmittelalterlichen Stadt (» E. Die Klang-Aura), der als Beitrag zur historischen “Alltagsforschung” in Österreich diente, umschreibt einen sozialhistorisch definierten Zustand mitteleuropäischen Stadtlebens um 1350–1550. Salmen wählt als formalen Rahmen dieser Lebensverhältnisse die damalige Kultur des Bürgertums, des “dritten Standes” nach Klerus und Adel. Freilich war das von ihm beschriebene bürgerlich-städtische Leben nicht scharf von höfischen und kirchlichen Einflüssen abgehoben: Wie in der mittelalterlichen Kultur überhaupt, konnten sich die höheren Stände an allen Aktivitäten beteiligen, während das Bürgertum seine Teilnahme nur langsam auf vormals privilegierte Bereiche ausdehnen konnte – und viele Bereiche der Musik waren von sozialen Privilegien umgeben. Das städtische Musikleben umfasste verschiedene soziale Welten, oft in der konkreten Weise, dass bei öffentlichen (der Allgemeinheit zugänglichen) Ereignissen und Veranstaltungen verschiedene Bevölkerungsgruppen zugegen waren und dass weltliche Vergnügungen wie Staatsbankett und Hochzeitstanz mit Gottesdiensten und Prozessionen kombiniert wurden.
Wenn man von einer mehr ästhetischen Betrachtung der akustisch-topographischen Umwelt zur Frage nach sozialer Praxis weitergeht, werden geschichtliche Parameter erkennbar. Stadtmusik war geschichtlichen Veränderungen unterworfen, die sich sowohl überregional als auch lokal abspielten. Aber es gab auch starkes Beharrungsvermögen, denn das Musizieren war in zum Teil langlebige Gesellschaftsstrukturen eingebettet. Ein Beispiel einer solchen longue durée ist das vom 13. bis ins 18. Jahrhundert bestehende Stadtpfeifertum. Gesellschaftliche Strukturen aufrechtzuerhalten setzte lokales Wissen, Zukunftsplanung und kollektive Organisation voraus. Stadtbewohner lebten innerhalb dieser Strukturen. Ludwig Senfls geniale Stadtklang-Komposition “Das Geläut zu Speyer” mag dem Geschichtstouristen als ästhetischer “Schnappschuss” einer akustischen Umwelt, eines “soundscape” (nach R. Murray Schafer)[2] erscheinen; der damalige Stadtbewohner konnte solche Umweltklänge hingegen als Kommunikation fest eingeübter Informationen aufschlüsseln, die ihn etwas angingen.[3] Die “etische” Rezeption des ersteren Hörers und die “emische” des letzteren schließen sich jedoch nicht aus und konnten in derselben Person vereinigt sein.
Musikleben von sozialen Strukturen her zu verstehen bedeutet ferner, die Verteilung von Urheberschaft, politischer Kontrolle, Rechtsansprüchen und praktischer Beteiligung auf verschiedene Akteure zu erkennen und den Gegensatz zwischen spontaner und verordneter (bzw. verwalteter) Tätigkeit zu würdigen. Im folgenden Essay, der sich vor allem auf Archivalien stützt, haben Beispiele offiziellen Musizierens (und Lärmens) notgedrungen das Übergewicht; die Musik des privaten und individuellen Lebens ist aus Mangel an Quellen für diese Epoche in ganz Europa noch untererforscht.[4] Die Musiker selbst und ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen sollen im Essay » E. Musiker in der Stadt etwas näher betrachtet werden.
Charakteristisch für Walter Salmens musikalische Alltagsforschung war ihr überregionaler und vergleichender Anspruch. Im vorliegenden Projekt kann die europäische Breite und Vielfalt der von ihm gesammelten Nachweise nicht nachgeahmt werden. In das Narrativ zur Hauptstadt Wien werden Nachrichten aus anderen Städten der Region Österreich nur punktuell eingelagert und bleiben leider in der Minderzahl. (Nachrichten zu städtischen Trompetern in südeutschen Städten sind bei Green 2011 zusammengestellt.) Es ist zu hoffen, dass musikalische Stadtgeschichtsforschung zunehmend von überregionalem Vergleich und internationaler Kooperation profitieren wird.
[1] Salmen, Vom Musizieren 1977, 78.
[3] Ludwig Senfl, Das Geläut zu Speyer, erstveröffentlicht in: Hundertainunzwanzig newe lieder, hrsg. von Johannes Ott, Nürnberg: Formschneider, 1534. Der Text der Komposition bietet in spielerischer Dialogform eine Erklärung des eigentlichen Vorgangs des Glockenläutens und seines Anlasses, des Kirchweihfests. Senfls Musik imitiert konkret die Tonhöhen der Glocken des Speyrer Doms und lotet alle möglichen Kombinationen an Zusammenklängen aus (Hinweis von Birgit Lodes). Vgl. Tröster 2019, 186f. und 316–323.
[4] Vgl. jedoch Fink-Gstrein-Mössmer 1991.
[3] Ludwig Senfl, Das Geläut zu Speyer, erstveröffentlicht in: Hundertainunzwanzig newe lieder, hrsg. von Johannes Ott, Nürnberg: Formschneider, 1534. Der Text der Komposition bietet in spielerischer Dialogform eine Erklärung des eigentlichen Vorgangs des Glockenläutens und seines Anlasses, des Kirchweihfests. Senfls Musik imitiert konkret die Tonhöhen der Glocken des Speyrer Doms und lotet alle möglichen Kombinationen an Zusammenklängen aus (Hinweis von Birgit Lodes). Vgl. Tröster 2019, 186f. und 316–323.
[4] Vgl. jedoch Fink-Gstrein-Mössmer 1991.
[5] Überblick mit ausgewählten Dokumenten bei Schusser 1986, 134–147 (Klaus Lohrmann).
[7] Wiener Stadt- und Landesarchiv (A-Wsa), 1.1.1. B 1/ Oberkammeramtsrechnung 1. Reihe, 1- (1424-) hier abgekürzt OKAR 1 (1424), usw. Belege aus den Oberkammeramtsrechnungen (Stadtrechnungen) Wiens werden hier im Haupttext ohne Fußnote als “1444, fol. 37r” usw. zitiert.
[8] Währung: 1 Pfund (tl.) = 8 große („lange“) Schillinge (s.) = 240 Pfennige (d., denarii).
[9] Der Sonntag Reminiscere (“Erinnere dich”) diente in vielen Städten – neben Wien u.a. Hall i.T., Salzburg, Wels – als Jahresbeginn der öffentlichen Verwaltung; er war Stichtag für den Beginn von Ratsperioden sowie für Anstellungen an Schule und Kirche.
[10] Archiv der Stadt Salzburg (A-Ss BU 263), Kammeramtsrechnung 1486-1488, fol. 25r und 27r. “fl.” = (Rheinischer) Gulden, dessen Wert um 10s. lag.
[13] Währung: 1 Pfund (tl.) = 8 große („lange“) Schillinge (s.) = 240 Pfennige (d., denarii).
[15] Sommerfeldt 1905, 324; Schusser 1986, Nr. 52, S. 76 (Meta Niederkorn-Bruck).
[16] Weitere Festlichkeiten mit Glockenklang sind zusammengestellt bei Czernin 2011, 106-108.
[17] » D. SL Music for a Royal Entry (Helen Coffey). Die Praxis der joyeuses entrées niederländischer Städte jener Epoche (vgl. Strohm 1985, 79-85; Prevenier/Blockmans 1986; Saucier 2008) war in Österreich natürlich bekannt.
[18] Senn 1938, 109f. Eine “Kaiserin” gab es damals nicht. Mit “Königin” war wohl Maria von Ungarn gemeint.
[19] Senn 1938, 110.
[20] Piccolomini 2009, Buch VI, 741. Vgl. auch Schusser 1986, 127 (Anneliese Stoklaska).
[21] Csendes/Opll 2001, 156.
[22] Die Maler der Paniere sind namentlich genannt: Meister Erhart und (Jakob) Kaschauer.
[23] Die Geschenke für ihre Herren sind hier übergangen. Viele Einträge beziehen sich auf jeweils eine Mehrzahl von Empfängern. Ein Auszug aus der Liste auch bei Schusser 1986, Nr. 125, S. 143 (Abb.) und 144 (Klaus Lohrmann).
[24] Es handelt sich um Musiker von Georg Podiebrad, dem Landesverweser und späteren König von Böhmen, vgl. weiter unten “hern Gircziken von Bodebrad narrn”. Bei Schusser 1986 bleibt “Gircziken” unidentifiziert.
[25] Vgl. » B. “Volkslieder”, Kap. Definitionen (Sonja Tröster).
[26] Ich danke Marc Lewon für eine Kopie dieses Dokuments. Vgl. Lewon 2014, 330 (Faksimile) und 338f. (Transkription, Übersetzung und Kommentar).
[27] Lewon 2014, 339, mit auch hier berücksichtigten Hinweisen von Dr. Elisabeth Klecker. Bistricia ist entweder Slovenska Bistrica (Windisch-Feistritz), dessen Burg 1456 dem Grafen von Cili gehörte, oder eine Grafschaft im südöstlichen Ungarn (heute im Norden Rumäniens). Die Anwesenheit des Bischofs von Grosswardein bei den Wiener Festlichkeiten von 1452 ist in den Stadtrechnungen belegt. “Zophia”: eine von Klecker vermutete Anspielung auf die Einnahme Konstantinopels und der Hagia Sophia (erst 1453) kommt mir unwahrscheinlich vor.
[28] Zu Egkenvelder » B. Kap. Eine studentische Liedersammlung (Marc Lewon); Lewon 2014.
[29] Liliencron 1865–1869 Bd. I, Nr. 99, 452–460, nach D-Mbs Cgm 1113, fol. 131. Vgl. Schusser 1986, 126–129 (Anneliese Stoklaska und Ingomar Rainer).
[30] Exemplar in der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz (Ye 2206): http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht/?PPN=PPN759625425. Vgl. » B. Kap. Liedtexte mit Verweis auf Orte (Sonja Tröster).
[31] Vgl. die Melodie bei Wenzel 2018, 211; Text bei Liliencron 1865–1869, Bd. III, Nr. 383; Mantuani 1907, 347–348 (Melodie, unterlegt mit dem Text “Ach durch got vernemt die klag”, was inhaltlich ebenfalls möglich, prosodisch jedoch viel weniger passend wäre). Der von Liliencron als Aufenthaltsort Wißbecks vorgeschlagene “Wiener Hof, 1457” wäre die Hofhaltung Herzog Albrechts VI. Ingomar Rainer (Schusser 1986, 129) glaubt Wißbeck auch den Text des Lassla-Liedes zuschreiben zu können, was bezweifelbar ist.
[32] So bezeugt von Stephan von Landskron (1465): » B. Kap. Betrachtung und Gebet.
[33] Zu Peter Spörl vgl. Welker 2005, 79.
[34] Über die Frage des Zusammenhangs zwischen Studium und Liederbuch vgl. Kirnbauer 2001. Das sogenannte “Rostocker Liederbuch” (»D-ROu Mss. phil. 100/2) aus dem 3. Viertel des 15. Jahrhunderts, mit 60 meist weltlichen Liedern, wird von der Forschung einhellig als Universitätshandschrift angesehen.
[36] “Ceterum studentes ipsi voluptati operam prebent, vini cibique avidi. pauci emergunt docti neque sub censura tenentur, die noctuque vagantur magnasque civibus molestias inferunt. ad hec mulierum procacitas mentes eorum alienat.” Wolkan 1909, Bd. 61, Nr. 27, 82. Statt Wolkans Datierung dieses Briefes, ca. 1438, schlägt Alphons Lhotsky wohl richtiger ca. 1450/1451 vor; vgl. Lhotsky 1965, 136f. Vgl. auch » E. Musik in der Universität.
[37] Detaillierte Auskünfte über die Liedpflege an der Universität Prag, mit Anmerkungen auch zu Wien und Heidelberg, bietet Ciglbauer 2017, 71–84.
[38] Müller 1885, 23. Die Egerer Schule ist nach Müller seit 1289 belegt; sie unterstand der Stadt und zugleich dem Haus des Deutschen Ordens.
[39] Strohm 1993, 489–493.
[40] Der Wortlaut der gerufenen Ankündigung vom 31. Mai 1454 ist überliefert: Copey-Buch 1853, 13–14.
[41] Schusser 1986, 146 (Klaus Lohrmann).
[42] Czeike 1992–1997, Art. Neuer Markt.
[43] Stadtarchiv Hall i.T. (A-HALs), Raitbuch 4, 1462, fol. 148r.
[44] Stadtarchiv Wels, A-WEsa, Akten Sch. Nr. 18 (Kammeramtsrechnungen), 1485 fol. 2r und öfter.
[45] Stadtarchiv Linz, A-LIsa Hs. 856, Kerschbaum, Chronik 1400–1530, Bd. 1, 11–12; Stadtarchiv Linz, A-LIsa Hs. 861, Leopold Sind, Chronologische Beschreibung der Stadt Linz (1790).
[46] Fiala 2013, 35f., nach Rausch 1996, 179f.
[47] Zur Beteiligung der Stadtpfeifern an öffentlichen Spielen vgl. auch » E. Kap. Musiker zwischen Stadt, Kirche und Hofgesellschaft.
[48] Zu Tanzstätten: Schusser 1986, 12 und 146 (Nr. 1 und 131); Czernin 2011, 92–94.
[49] Bowles 1977, 26.
[50] Malecek 1947, 15 fn. 42.
[51] Die “Landshuter Hochzeit” von 1475 wurde durch den dabei entfalteten Prunk berühmt.
[52] Senn 1938, 29–30, 104–117. Einzelne Angaben aus den Haller Stadtrechnungen (A-HALs Raitbuch 1-5) sind hier nur mit Jahreszahl und Foliozahl gekennzeichnet; Raitbuch 1 (Rb. 1) umfasst die Jahre 1411–1423; Rb. 2: 1424–; Rb. 3: 1451–; Rb. 4: 1459–; Rb. 5 1468–. Ich bin dem Stadthistoriker der Stadt Hall i.T., Mag. Dr. Alexander Zanesco, für Archivzugang und fachliche Beratung zu herzlichem Dank verpflichtet.
[54] Währung: 1 lb. (Pfund) = 12 gr. (Groschen); 1 gr. = 5 f. (Fierer); 1 f. = 4 pn. (Perner, Berner, d.h. Veroneser, Pfennige). 1 lb.= 240 pn.
[56] Raitb. 3, 1451, fol. 17v.
[57] Gemeint ist Friedrich V. (geb. 1415), der spätere König Friedrich III. Vgl. auch Senn 1938, 108.
[58] Ich danke dem Stadthistoriker von Hall i.T., Alexander Zanesco, herzlich für Transkriptionshilfe.
[59] Raitb. 4, 1462, fol. 157v.
[63] Vgl. die kirchlichen Zeremonien der Waldaufstiftung seit 1496: » D. The Waldauf Foundation.
[64] Green 2006 (Helen Coffey, Stadtpfeifer and Varende Lewte: Secular Musical Patronage in the Imperial Cities of Germany during the Reign of Maximilian I (1486–1519) , unpubl. D.Phil. Dissertation University of Oxford, 2006). Kap. 3, 85, nach Stadtarchiv Regensburg, Cameralia 19, f. 29r. Statt „wir“ ist vielleicht „jar“ (Jahr) zu lesen.
[65] I-BZac, ABZ 1.3, Hs. 181 (1512), fol. 41r.
[66] I-BZac, ABZ 1.3, Hs. 182 (1513), fol. 86r.