Österreich und die Eidgenossen
Eine ergänzende Perspektive bieten eidgenössische Quellen, darunter Chroniken und Urkunden, die einen besonderen Einblick in die Produktion und Rezeption von pro-habsburgischen Liedern während der dauernden Konflikte zwischen den beiden Parteien im 15. Jahrhundert ermöglichen. Dabei tritt die agitatorische Dimension dieser Lieder zutage, deren provozierende politische Inhalte und gesetzliche Verbote indirekt Rückschlüsse auf ihren Rezeptionskontext zulassen. In den Chroniken des Aegidius Tschudi und Valerius Anshelm finden sich Belege für die Verbreitung pro-österreichischer Lieder in der Schweiz. Diese Lieder wurden in den Chroniken offenbar als historische Berichte rezipiert, wie in den oben genannten Streuüberlieferungen. In der Tat bieten Tschudi und Anshelm einen Blick in den Ursprung und die Wirkung der Lieder an: In seinem Chronicon Helveticum verzeichnet Tschudi drei antieidgenössische Lieder, die er als österreichische Propaganda während des Alten Zürichkriegs (1440–1446) einordnet. Es handelt sich um die Lieder „Gen disem nüwen jare”, „Die Schwitzer sind usszogen” und „Woluff ich hör en nüw gethön”.[26] In seinem Kommentar zum ersten Lied, das sich auf Ereignisse des Jahres 1443 bezieht, identifiziert Tschudi einen zielgerichteten und koordinierten Versuch, die öffentliche Meinung gegen die Schweizer zu beeinflussen.
Ein unwarhafft schnöd schmachlied machtend die Österricher, wie die eidgenossen rote crütz an der schlacht vor Zürich getragen und wie si das hochwirdig sacrament geschmächt und anders das erdicht und erlogen was so si inen in disem lied mit unwarheit zůlegtend damit man ouch durch lieder den eidgnossen vientschafft machti bi den frömbden völckern.[27]
(Die Österreicher machten ein lügnerisches und böses Schmählied darüber, daß die Eidgenossen rote Kreuze in der Schlacht vor Zürich getragen, daß sie das Hochwürdige Sakrament geschändet hätten und weitere erdichtete und erlogene Sachen; indem sie den Eidgenossen in diesem Lied unwahre Dinge vorwarfen, wollten sie auch durch Lieder den Eidgenossen Feindschaft bei fremden Völkern stiften.[28])
In ähnlicher Weise äußert Valerius Anshelm in seiner Berner Chronik deutliche Kritik an der Erstellung von „Erhabne Schma(e)chwort, Lieder und Geschrey zwischen dem Schwaben und Schwyzer Bund” während der habsburgisch-eidgenössischen Auseinandersetzung des Schwabenkrieges im Jahre 1499.
Und ward dise Berachtung noch dis Jahrs so groß, daß g’mein Eydgnossen trutzlich des Bunds Houptlüten, etlichen Städten und dem Herzogen von Oesterrych zuschribent, semlich unverdiente Straf abzestellen. Entschuldigetent sie sich All, auch der Römisch Küng selb, treffenlich anzeigend, wie ein so groß Mißfallen sie, und alle Ehrbarkeit, ab ihren ungehorsamen, lichtfertigen Schälkern hätte, semliche Schmächung hoch verboten, verbuttint und strafint, auch nach Müglichkeit nit gestatten welltint.[29]
(Und es wurde diese Verleumdung noch dieses Jahr so groß, dass alle Eidgenossen wütend den Hauptleuten des Bundes, etlichen Städten und dem Herzog von Österreich schrieben, es solle dieselbe unverdiente Anklage abgestellt werden. Sie [die Briefempfänger] entschuldigten sich alle, auch der Römisch König selbst, zutreffend anzeigend, wie sie, und alle Ehrbarkeit, ein so großes Missfallen über ihre ungehorsamen, leichtfertigen Schalken hätten, [dass sie] dieselbe Schmähung strikt verboten, verbeten und bestraft hätten, und nach Möglichkeit nicht gestatten wollten.)
Im Vergleich zu den historisierenden Zweitrezeptionen in den obengenannten Streuüberlieferungen war für beide Chronisten die politische Wirkung des zeitgenössischen Liedes von hoher Relevanz. Allerdings sind die Behauptungen, dass diese Lieder Teil eines koordinierten Propagandaversuchs gewesen seien, und dass der Herzog von Österreich und der römische König persönlich Verantwortung übernommen hätten, vermutlich übertrieben. Ungeachtet dieser Einschränkungen bieten die Chroniken eine wesentliche Grundlage zur Untersuchung der aktiven Rolle zeitgenössischer Lieder in kriegerischen Konflikten. Der rückblickende Charakter dieser Chroniken darf nicht als Abwertung der tatsächlichen Wirkung politischer Lieder verstanden werden. Dokumentierte Liedverbote aus dem 15. und 16. Jahrhundert liefern einen deutlichen Beleg hierfür.[30] Von den erhaltenen Quellen ist ein besonders relevantes Beispiel aus Basel zu nennen. Im Jahr 1448 verbot der Basler Rat die Herstellung „anreytziger Lieder”, die offenbar von beiden beteiligten Parteien in Umlauf gebracht wurden:
…ouch khein partigige lieder singen noch mutwillige geschrey Hie Osterrich oder Hie Swytz triben sölle, vmb das fride vnd fru(e)ntschaft desterbass zu nemen vnd vnwille uff alle parthyen vermitten werden möge.[31]
(…auch keine parteilichen Lieder singen noch mutwilliges Geschrei „Hie Osterrich” oder „Hie Swytz” verbreitet werden sollen, um Friede und Freundschaft umso mehr zu ermöglichen und Unwille gegen alle Parteien zu vermeiden.)
[26] Liliencron 1865, Bd. 1, Nr. 81, 82, 79; Rattay 1986, 99–110.
[27] Tschudi 1996, 174; Vgl. Rattay 1986, 112.
[28] Übersetzung von Müller 1986, 446.
[29] Anselm 1826, 7; Thum 1984, 352–3.
[30] Vgl. Hampe 1928, 251–278.
[31] von Liebenau 1873, 347; Rattay 1986, 40–1.
[1] Schanze 1999b, 305–6; Brednich 1975, Bd. 2, 59–61.
[2] Liliencron 1865–1869.
[3] Vgl. Kellermann 2000, 35; Honemann 1997, 399–401.
[4] Z.B. Erk/Böhme 1893/1894, Bd. 1, vii; Janicke 1871, 3; Suppan 1966, 38.
[5] Sauermann 1975, 301; Hampe 1919, 52.
[6] Müller 1974, 26–7; Sauermann 1975, 301–2.
[7] Kellerman 2000, 13, 86–7; Kerth 1997, 9.
[8] Kerth 1997, 9.
[9] Kellermann 2000; Kerth 1997; Seibert 1978; Wenzel 2018.
[10] Vgl. Eickmeyer 2017, 29; Honemann 1997, 418–9; Brednich 1974, Bd. 1, 154; Straßner 1970, 242; Kellermann 2000, 311.
[11] Vgl. Kellermann 2000, 92–8, 155–6, 277; Wenzel 2018, 247–62.
[12] Zum “Agitationszweck” vgl. Völker 1981, 23; Vgl. auch Hampe 1928, 251–278; von Liebenau 1873, 346–7.
[13] Vgl. Hermann 2006, 65; Rogg 2002, 274–6.
[14] Liliencron 1866, Bd. 2, Nr. 138. Dieser Liedtext wurde wahrscheinlich auf den hier unten behandelten Wissbeck-Ton gedichtet: vgl. » F. SL Die Missa O Österreich (Reinhard Strohm).
[15] Suppan 1995, 157.
[16] Zu den Begriffen „autrichité“ und „Habsburgisches Spätmittelalter” vgl. Müller, 1986, Bd. 1, 427–8; Spechtler 1986, Bd. 1, 470.
[17] Zu Beheim siehe » B. Spruchsang (Horst Brunner).
[18] Gille-Spriewald 1968–1972, Bd. 1, Nr. 105, Nr. 106, Nr. 112, Bd. 2 Nr. 238–9.
[19] » B. Lieder in der Region Österreich (Nicole Schwindt).
[20] GB-Lbl Add. 16592, fol. 22r–23v; Schmidt 1970, 520; Seemüller 1897, 170; Seemüller 1897, 587.
[21] Seemüller 1897, 587–8.
[22] Seemüller identifiziert zwei Hände aus dem 16. Jahrhundert für die ersten sechs Nummern, einschließlich des Abschnitts über Friedrich III. Seemüller 1897, 589.
[23] Schneider 1991, 85–95; Neugart 1989, 451–2; Müller 1986, 439.
[24] Vgl. ferner Strohm 2001, 58.
[25] Thum nennt einige Verse in der Ichform aus dem Text, die auf Beheims Furcht hinweisen: Thum 1984, 323.
[26] Liliencron 1865, Bd. 1, Nr. 81, 82, 79; Rattay 1986, 99–110.
[27] Tschudi 1996, 174; Vgl. Rattay 1986, 112.
[28] Übersetzung von Müller 1986, 446.
[29] Anselm 1826, 7; Thum 1984, 352–3.
[30] Vgl. Hampe 1928, 251–278.
[31] von Liebenau 1873, 347; Rattay 1986, 40–1.
[32] Mayer 1883, Bd. 1, 21–30; Dolch 1913, Bd. 1, 14–130.
[33] Seibert 1978, 381.
[34] Seibert 1978, 383.
[35] Zahn 1884, 245; Schmidt 1970, 520; Weller 1862, Bd. 1, Nr. 147; Liliencron 1867, Bd. 3, Nr. 409, 410.
[36] Wenzel 2018, 225; Lilencron 1867, Bd. 3, Nr. 338, 339; Brednich 1975, Bd. 2, Nr. 249.
[37] Wenzel 2018, 227; Lipphardt 1965, 79.
[38] Wenzel 2018, 226.
[39] In anderen bekannten Imitationen des Fünfschlags, darunter der zweite Teil von Clément Janequins La Bataille und William Byrds The Flute and Drome, wird ein deutlicherer Marschtakt durchgehalten, wodurch das musikalische Zitat unverkennbar wird. Vgl. Wenzel 2018, 226–7.
[40] Das ist mit ähnlichen Motiven in der L’homme armé-Melodie vergleichbar. Vgl. Strohm 2001, 62.
[41] Wenzel 2018, 201–211.
[42] Nehlsen und Schlegel 2012, 187. Siehe auch » B. Kap. Liedtexte mit Verweis auf Orte oder Ereignisse aus der Region Österreich (Sonja Tröster).
[43] Nehlsen und Schlegel 2012, 188–92.
[44] Wenzel 2018, 203; D-Dl M 53, fol. 160r.
[45] Bäumker 1895, 67; Nehlsen und Schlegel 2012, 194–5.
[46] Wenzel 2018, 211–224.
[47] Vgl. Wenzel 2018, 211; Liliencron 1867, Bd. 3:263–4, Erk/Böhme 1893/1894, Bd. 1 480; Kellermann 2000, 258.
[48] Schanze betont zu Recht, dass Wißbeck nicht der Komponist der Melodie selbst sein muss, aber das ist ohnehin nicht die Absicht der meisten Behauptungen. Schanze 1999, 1271–1272.
[49] Wenzel 2018, 211 Anm. 11; Liliencron 1866, Bd. 2, 557–8, Nr. 247.
[50] Wenzel 2018, 215.
[51] Kellerman 2000, 285–332.
[52] McDonald 2017, 372; Kellermann 2000, 244; Müller 1986, 453–5.
[53] Kellerman 2000, 256.
[54] Reichel 1985, 145; Kellerman 2000, 326.
[55] Neugart 1989, 451–2.
[56] Z.B. „Der uns das liedlein neus gesang/ain landsknecht ist ers ja genant”; Liliencron 1867, Bd. 3, Nr. 367, Strophe 11.
[57] Vgl. Abele 2006, 42–4; Wenzel 2006, 29; Wenzel 2018, 171.
[58] Strohm 2014, 8–11.
[59] Senn 1956, 191.
[60] Wenzel 2018, 60, 71.
[61] Rogg 2002, 106.
[62] Liliencron 1865, Bd. 1, Nr. 120, Strophe 5; CH-BEb Mss.h.h.I.3, ff. 48–50.
[63] Gille/Spriewald 1968, Bd. 1, Nr. 106, vv. 151–60.
[64] Wenzel 2012, 282.
[65] Wenzel 2018, 112.
[66] Vgl. Liliencron 1866/1867, Bd. 2, Nr. 218 Strophe 8; Nr. 226 Strophe 10; Bd. 3, Nr. 354 Strophe 15.
[67] Liliencron 1867, Bd. 3, Nr. 400, vv. 53–56.
[68] Wenzel 2018, 115; Wenzel 2012, 280.
[69] Liliencron 1867, Bd. 3, Nr. 412, vv. 44–50.
[70] Liliencron 1867, Bd. 3, Nr. 414, Strophe 26.
[71] Liliencron 1867, Bd. 3, Nr. 296, Strophe 12.
[72] Liliencron 1867, Bd. 3, 185.
[73] Liliencron 1865, Bd. 1, Nr. 81, Strophe 13.
[74] Liliencron 1865, Bd. 1, Nr. 79, Strophe 20.
[75] von Liebenau 1873, 346–7.
[76] Cramer 1979, Bd. 2, 268–74, Strophe 3 vv. 18–9.
[77] Liliencron 1866, Bd. Nr. 247, Strophe 13.
[78] Zum Begriff „Musikalisierung“ im Kontext des Krieges vgl. Kaltenecker 2016, 25–7.
[79] Müller 1968, 81–7.
[80] Eine standardisierte Version des Textes und ein textkritischer Apparat sind im Katalog des Deutschen Inschriften Online vorhanden. DI 34, Bad Kreuznach, Nr. 254†.
[81] Liliencron 1867, Bd. 3, Nr. 370, vv. 11–19.
[82] Vgl. van Orden 2005, 187–217.
[83] Liliencron 1867, Bd. 3, Nr. 317, Strophe 25.
[84] Fronsperger 1819, Bd. 1, 176–7; Müller 1968, 238–41; Schneider 1868, 132.