Rätsel um Ach Gott wem soll ich klagen
Besonders enigmatisch ist der letzte Eintrag Nr. 79, der auf fol. 85v mit hellerer Tinte, also nach einer Schreibpause notiert wurde und mit einem Monogramm aufwartet: den ineinander verschlungenen Buchstaben G und S bzw. S und G (S seitenverkehrt),[11] die allerdings mit keinem Namen in Verbindung gebracht werden können (will man nicht mit dem Gedanken an den langjährigen Kapellsänger, hernach Kapellmeister und schließlich Bischof von Wien Georg Slatkonia spielen, dessen Kompositionstätigkeit zwar nur in Form eines kleineren geistlichen Werks belegt ist, der aber zur Riege der gewichtigen Hofmusiker gehört). Das Liebeslied selbst hatte an Maximilians Hof keine geringe Bedeutung, indem es eine neue VarianteB der Chanson En douleur et tristesse Noel Bauldeweyns (ca. 1480–nach 1513) darstellt. Die fünfstimmige Chanson des Magister cantorum in Mecheln, dem Regierungssitz von Maximilians Tochter Margarete, kursierte in Augsburg mit dem eingedeutschten Text Ach Gott wem soll ich klagen. Im dominierenden Kontext der Tenorlied-Produktion (» B. Kap. „Tenorlied“ und Stimmfunktionen) war es schon allein dadurch anschlussfähig, dass die ursprüngliche französische Liedmelodie nicht in der Oberstimme erklingt, was bei deutschen polyphonen Liedern die absolute Ausnahme ist, sondern kanonisch in der Satzmitte liegt, wo sie (wie bei vielen Tenorliedern) nach dreifacher Vorimitation, allerdings in der äußerst selten für einen Cantus firmus gewählten Altlage anhebt. Die völlig neu konzipierte Version in Mus.ms. 3155 ist indes keine Kontrafaktur, sondern eher eine Akkulturation in Form eines tadellosen, aber schlichten, kurzen Tenorlieds – nicht zuletzt dadurch, dass im zweiten Teil zitathafte Anklänge an die Melodie des verbreiteten Ich stund an einem Morgen aufflackern, das auch in Mus.ms. 3155 in zwei Vertonungen von Senfl S 167 und Isaac, Nr. 63 und 64, vertreten ist.[12] Auch Wagenrieder scheint sich an die Melodie des Anfangs erinnert zu haben, als er mit der Niederschrift des zweiten Teils der Handschrift begann, denn er versuchte, dem textlosen Eintrag den Text in der auch im Folgenden von ihm praktizierten Alltagsschrift beizulegen. Doch unterscheidet dieser sich bereits nach zwei Kurzversen von der üblichen Fassung und bricht dann gänzlich ab – insgesamt ein etwas unrühmliches Ende des ursprünglich hochfliegenden Plans einer repräsentativen Sammlung.
[2] Für die Vermutung, die Handschrift sei in den Besitz des bayerischen Herzogs gekommen und habe dort vor der Makulierung bewahrt werden können (Hell 1987, 72f.), gibt es keine Belege.
[3] Hier und im Folgenden Nummerierung nach Gasch -Tröster - Lodes 2019; siehe auch www.senflonline.com. Nummern mit * sind „questionable“, d. h. sie sind Senfl von der Forschung teils mehr, teils weniger gut begründet zugeschrieben oder sind auch unter einem anderen Namen überliefert. Die den Ziffern vorgesetzten Buchstaben bezeichnen die Gattung (S = Song, P = Proper Setting).
[4] Argumente für Datierung und Anlass bei Lodes 2013, 192–196.
[5] Vgl. Schwindt 2018a, 11–14.
[6] Siehe Gasch 2012, Anhang 1, S. 429–439.
[7] Birkendorf 1994, Bd. 1, S. 46; Bd. 2, S. 116 (Abb. 78).
[8] Falls es sich bei Hand A im Augsburger Manuskript nicht ohnehin bereits um den jungen Wagenrieder handelt, zumal die Kennzeichen der Textschrift ebenfalls starke Ähnlichkeiten aufweisen (siehe D-As 2° Cod. 142a, fol. 8v, 9v, 15v, 17v, 23v, 29v, 30v, 35v und öfter).
[9] Dabei hat das Metrum vor allem die Funktion, die beständige Abwechslung von langen/betonten und kurzen/unbetonten Textsilben abzubilden und so einen narrativen Duktus zu erzeugen (siehe Schwindt 2018 b, 54–57). Die Tradition geht auf den einstimmigen Solovortrag zurück, wobei die Tondauern im Vortrag flexibel und sprachnah modifiziert werden. Das Phänomen wurde von Marc Lewon beschrieben und mit dem Begriff „Referenzrhythmus“ erfasst (siehe u.a. Lewon 2016, 96–100).
[10] Eine Ausnahme mit partieller Autornennung stellt das erste erhaltene Liederbuch Peter Schöffers d. J. aus dem Jahr 1513 dar (» [Lieder für 3-4 Stimmen], Mainz: Peter Schöffer d.J., 1513). Der Grund liegt in der offensichtlichen Intention des Drucks, die beiden Höfe Württemberg (Stuttgart) im ersten Teil und Kurpfalz (Heidelberg) im zweiten Teil mit der Nennung ihrer jeweiligen Liedverfasser musikalisch zu repräsentieren, was eine mediale Reaktion auf die Doppelhochzeit von Sibylle und Sabine von Bayern mit Kurfürst Ludwig bzw. Herzog Ulrich am 23. Februar und 2. März 1511 war (siehe Nicole Schwindt, „Die Macht der Gefühle zum Klingen gebracht – Frauenbilder und Liebeskonzepte im Liebeslied am Hof Herzog Ulrichs“, in: Frauen. Liebe Macht Kunst. Weibliche Lebensentwürfe an südwestdeutschen Höfen, hrsg. von den Staatlichen Schlössern und Gärten Baden-Württemberg, in Vorb. Nur in ganz vereinzelten Ausnahmefällen fügen Schweizer Liedquellen des frühen 16. Jahrhunderts Initialen als Autorzuschreibung bei.
[11] Hell 1987, 130f. hat die Initialen – in keiner Weise nachvollziehbar – als LSS gelesen und als Ludwig Senfl Schweizer aufgelöst.
[12] Ausführlich zu den Fassungen und der Chronologie der Liedfamilie.Schwindt 2010, 49–62, Partitur des Liedes auf S. 57.
[14] Im Schöffer-Liederbuch von 1517 (Detailangaben im Verzeichnis deutscher Musikfrühdrucke, siehe http://www.vdm16.sbg.ac.at, Nr. 16) gibt es neun Konkordanzen mit dem ersten Teil von Mus.ms. 3155: Nr. 8, 10, 11, 13, 22, 42, 45, 70 und 76.
[15] Moser 1929, 125. Das Lied wurde bereits in Öglins erstem Liederbuch von 1512 gedruckt (Nr. 12).
[16] Mit dieser Einschätzung des paläographischen Befunds, für die ich PD Dr. Andreas Zajic, Österreichische Akademie der Wissenschaften Wien, zu Dank verpflichtet bin, erübrigen sich die verschiedenen im musikwissenschaftlichen Schrifttum unternommenen Versuche, die Textschrift mit Senfls Gebrauchsschrift zu identifizieren. Beispiele für die genannten Typen finden sich in: https://tinyurl.com/Schrifttypen.
[17] Nr. 48 Lieblich hab ich, fol. 51v, Alt, beim Übergang zur 2. Zeile irrtümlich C3- statt C2-Schlüssel, was dissonante Terzversetzungen produziert, auch der zur Kontrolle heranzuziehende Schlussklang wäre ein Terz- statt ein Quintklang. Nr. 9 Inbrünstiglich, fol. 12v–13r, endet mit einem unzeitgemäßen Dreiklang A-e-e‘, dessen Dezime c‘ im Alt in den Schlusston h geführt wird. Nr. 39 In rechter Lieb, fol. 42v, Diskant, 1. Zeile, neuntletzte Note fälschlicherweise punktierte Semibrevis (Punkt im Manuskript mit Bleistift eingekreist). Nr. 49, Ludwig Senfl, Poch[en] trutzen, fol. 52v, Bass, letzte Zeile, 18. Note von hinten irrtümlich Semibrevis G statt A vor der Pause, was in der Binnenkadenz eine None zum Tenor ergibt.
[18] Thermographie-Aufnahmen der Bayerischen Staatsbibliothek: https://www.wasserzeichen-online.de/wzis/struktur.php?ref=DE5580-Musms3155_76 und https://www.wasserzeichen-online.de/wzis/struktur.php?ref=DE5580-Musms3155_50. Ich danke Frau Dr. Veronika Giglberger sehr für ihr Entgegenkommen bei der Autopsie und ihre Hilfsbereitschaft bei der Bereitstellung von bibliotheksinternen Informationen.
[20] Siehe die Einbanddatenbank http://www.hist-einband.de/?ws=w002482; hier sind die Motive Flechtwerk und Wilder Mann erfasst. Die seit dem späten 15. Jahrhundert arbeitende Augsburger Werkstatt band vermutlich auch die Bücher des Orientalisten Johann Albrecht Widmannstetter, dessen Privatbibliothek 1558 vom bayerischen Herzog Albrecht V. erworben wurde. Im Zusammenhang mit dem Übergang von in Augsburg gebundenen Buchbeständen nach München steht vielleicht auch die Tatsache, dass sich in der Bayerischen Staatsbibliothek eine Musikalie befindet (4o Mus.pr. 182), die zwei Drucke des Jahres 1543 enthält und deren Einband das Motiv des Wilden Mannes aufweist. Hell 1987, 72, der auf diese Koinzidenz hinwies, vermerkt selbst, dass „Rollen in einer Buchbinderwerkstatt immer über einen längeren Zeitraum verwendet“ wurden.
[21] Siehe » D. Music for a Royal entry.
[22] Für eine Transkription und Prosaübersetzung sowie detaillierte Interpretation des Liedtextes siehe Schwindt 2018c, 239–243 und 548.
[23] von Moltke 1970, 39.
[24] Nr. 9, 15, 19, 21, 25, 43, 44, 48, 51, 52, 54, 56, 59, 62, 72, 79, 91, 96 und 97.
[25] Nr. 11, 13, 14, 45, 58, 74, 89 und 93.
Empfohlene Zitierweise:
Nicole Schwindt: “Senfls Vermächtnis: Das Liederbuch München, Bayerische Staatsbibliothek, Mus.ms. 3155”, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/senfls-vermaechtnis-das-liederbuch-muenc… (2021).