You are here

Rätsel um Ach Gott wem soll ich klagen

Nicole Schwindt

Besonders enigmatisch ist der letzte Eintrag Nr. 79, der auf fol. 85v mit hellerer Tinte, also nach einer Schreibpause notiert wurde und mit einem Monogramm aufwartet: den ineinander verschlungenen Buchstaben G und S bzw. S und G (S seitenverkehrt),[11] die allerdings mit keinem Namen in Verbindung gebracht werden können (will man nicht mit dem Gedanken an den langjährigen Kapellsänger, hernach Kapellmeister und schließlich Bischof von Wien Georg Slatkonia spielen, dessen Kompositionstätigkeit zwar nur in Form eines kleineren geistlichen Werks belegt ist, der aber zur Riege der gewichtigen Hofmusiker gehört). Das Liebeslied selbst hatte an Maximilians Hof keine geringe Bedeutung, indem es eine neue VarianteB der Chanson En douleur et tristesse Noel Bauldeweyns (ca. 1480–nach 1513) darstellt. Die fünfstimmige Chanson des Magister cantorum in Mecheln, dem Regierungssitz von Maximilians Tochter Margarete, kursierte in Augsburg mit dem eingedeutschten Text Ach Gott wem soll ich klagen. Im dominierenden Kontext der Tenorlied-Produktion (» B. Kap. „Tenorlied“ und Stimmfunktionen) war es schon allein dadurch anschlussfähig, dass die ursprüngliche französische Liedmelodie nicht in der Oberstimme erklingt, was bei deutschen polyphonen Liedern die absolute Ausnahme ist, sondern kanonisch in der Satzmitte liegt, wo sie (wie bei vielen Tenorliedern) nach dreifacher Vorimitation, allerdings in der äußerst selten für einen Cantus firmus gewählten Altlage anhebt. Die völlig neu konzipierte Version in Mus.ms. 3155 ist indes keine Kontrafaktur, sondern eher eine Akkulturation in Form eines tadellosen, aber schlichten, kurzen Tenorlieds – nicht zuletzt dadurch, dass im zweiten Teil zitathafte Anklänge an die Melodie des verbreiteten Ich stund an einem Morgen aufflackern, das auch in Mus.ms. 3155 in zwei Vertonungen von Senfl S 167 und Isaac, Nr. 63 und 64, vertreten ist.[12] Auch Wagenrieder scheint sich an die Melodie des Anfangs erinnert zu haben, als er mit der Niederschrift des zweiten Teils der Handschrift begann, denn er versuchte, dem textlosen Eintrag den Text in der auch im Folgenden von ihm praktizierten Alltagsschrift beizulegen. Doch unterscheidet dieser sich bereits nach zwei Kurzversen von der üblichen Fassung und bricht dann gänzlich ab – insgesamt ein etwas unrühmliches Ende des ursprünglich hochfliegenden Plans einer repräsentativen Sammlung.