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Ein hypothetisches Szenario für Mus.ms. 3155

Nicole Schwindt

Die mehrfachen konzeptionellen Veränderungen, die das Manuskript erfahren hat, passen zu einem denkbaren Ablauf der Geschehnisse, der folgendermaßen beschrieben werden könnte: Analog zum geistlichen Liber selectarum cantionum entstand in Augsburg der kleiner dimensionierte, dennoch hochgesteckte Plan eines erlesenen weltlichen Denkmals der maximilianischen Hofmusik bzw. deren wichtigster weltlicher Gattung, des polyphonen Liedes – sei es als persönliches Erinnerungsstück, sei es als Objekt, das einer wichtigen Person übereignet werden sollte. Treibende Kraft war Siegmund von Dietrichstein, der Ludwig Senfl als Redaktor und hauptsächlichen musikalischen Repräsentanten mit der Durchführung betraute und ihm einen erfahrenen Kanzlisten zur Seite stellte. Die Zeitläufte vereitelten die anvisierte Vollendung einer Sammlung von Liedern, die sich dem klassischen Liebeslied und nobler Gesinnung verschreiben, statt dessen verschoben sich zuletzt die Sujets der von Senfl ausgewählten Lieder vermehrt ins Triviale und „Volkstümliche“ sowie ins Politische. Das nicht angemessen abgeschlossene, sondern nur notdürftig zu Ende gebrachte Manuskript blieb in Form ungebundener Faszikel bei Senfl, der es nach seiner und Wagenrieders Anstellung bei Herzog Wilhelm von Bayern mit nach München nahm. Entweder war es noch in Augsburg mit neuen Papierlagen erweitert und gebunden worden oder dieser Plan einer Fortsetzung wurde erst in München gefasst und nun als Senflsches Liedkompendium angegangen. Aber auch die pragmatisch gedachten Nachträge von der Hand Wagenrieders blieben Stückwerk. In den 1540er-Jahren fügte jemand Drittes noch drei weitere, aktuelle Lieder hinzu und der anachronistische Kodex ging in andere Hände über, bevor sich seine Spur in einem unbekannten bayerischen Fundus verlor.