Das Jahr 1527 und die Musikhistoriographie
In der Musikgeschichtsschreibung dominiert hingegen bis heute die Vorstellung, dass erst das Jahr 1527 den eigentlichen Beginn der Hofkapelle Ferdinands und damit der kontinuierlichen Tradition von Hofkapellen auf österreichischem Boden markiere.[3] Die Quellengrundlage bilden auch dabei die beiden ,Schlüsseldokumente‘ von 1527. So inkludiert die Hofordnung im Rahmen einer eigenen so genannten „Capelordnung“ Bestimmungen über die einzelnen Ämter, deren Anzahl und teilweise eine etwas nähere Beschreibung der damit verbundenen Aufgaben.
Vermerckht künigklicher majestat zu Hungern und Behaim etc. deutschen hofstat, durch ir künigclich majestat anno domini etc. im sibenundzwaintzigisten, am ersten tag Januarii aufgericht […]
Capelordnung
Ainen obristen caplan und sonnst vier [korrigiert aus: drey] caplän, die guet stymb haben unnd singen konnden. Ain meßner. [fol. 14v] Cantores neun unnd ain capellmaister, der soll der knaben preceptor sein unnd sy lernen. Khnaben zehen, organist ainer, zwen knecht, so der gesellen und knaben wartn. Prediger ainen oder zwen, ain capelschreiber.
Dem capelmaister zway phert, vier [korrigiert aus: dreyen] caplänen yedem ain pfert, mesner ain pherdt unnd die annderen personen faren auf den wägen.
Es soll auch die gannz capell ir gehorsam dem obristen caplan thun, der soll sein guet ordnung der ceremonien mit evangelipuch, pacem, weichwasser unnd annders, wie sich gegen einem solichem künig unnd fürsten gebürt, zu credenzen halten, auch die capeldiener unnd knaben mit gueter stymb unnd konnst des gesanngs anzunemen haben.
Item die cantores unnd knaben sollen durch den capelschreiber angedingt werden in den herbergn unnd der sol mit fleiss auffsehen haben, daz khain ubriger cosst auflauff, sonnder guet ordnung in der zerung gehalten werde.
Daneben wird als zweite Einheit der Hofmusik ein Trompeterchor vorgesehen, der von der traditionsgemäß als Verband aus Klerikern und Sängern konzipierten Kapelle institutionell abgehoben ist.[4] Das Hofstaatsverzeichnis von 1527 führt namentlich 29 Angehörige der Kapelle und acht Trompeter sowie einen Pauker an[5] und belegt damit die vollständige personelle Ausstattung der beiden Organisationseinheiten. Wohl hat die Forschung schon vor Längerem einzelne Hofkleriker sowie einige Trompeter aus der Zeit vor 1527 eruiert.[6] Schritte zum Aufbau einer kompletten Kapelle, zur Institutionalisierung der Hofmusik bzw. zu deren organisatorischer Regulierung seien vor 1526/27 aber nicht unternommen worden; vielmehr sei dies erst in Reaktion auf den Erwerb Böhmens und Ungarns bzw. zur Erfüllung des nun gegebenen Repräsentationsbedarfs erfolgt, und zwar „unter argem Termindruck“.[7] Im Lichte jüngerer Erkenntnisse bedarf dieses Narrativ allerdings einer kritischen Überprüfung. Trägt man die schon 1958 von Othmar Wessely vorgelegten Indizien, die jüngeren Quellenfunde des Historikers Gerhard Rill und die darauf beruhende, von der Geschichtsforschung vorgenommene Neubewertung der Vorgänge in den Jahren 1526/27 zusammen, so ergibt sich auch musikhistoriographisch ein anderes Bild.[8]
[3] Vgl. Hilscher 2000, 57–59; Seifert 2005, 41–42.
[4] Zur Trennung von Kapelle und Trompetern bzw. Instrumentalisten, die unter Ferdinand I. formal-organisatorisch beibehalten, faktisch aber bis zu einem gewissen Grad aufgeweicht wurde, vgl. Grassl 2012, 40–41.
[5] Hirzel 1909, 154–155; Wessely 1958, 391–392.
[6] Beginnend mit Wolfsgruber 1905, 50–51; Mitis 1928, 157.
[7] Wessely 1958, 74–75; vgl. zuvor schon Hirzel 1909.
[8] Vgl. Grassl 2012.
[1] Wührer/Scheutz 2011, 48.
[2] Rill 2003, 34; vgl. zusammenfassend Noflatscher 2007, 420–427; Wührer/Scheutz 2011, 39–62; hier, 345–363, auch eine moderne Edition der Hofordnung von 1527. Ein Digitalisat der Hofordnung 1527 ist verfügbar unter: https://www.archivinformationssystem.at/detail.aspx?ID=4016011, ein Digitalisat des Hofstaatsverzeichnisses 1527 unter: http://www.archivinformationssystem.at/detail.aspx?ID=4016012.
[3] Vgl. Hilscher 2000, 57–59; Seifert 2005, 41–42.
[4] Zur Trennung von Kapelle und Trompetern bzw. Instrumentalisten, die unter Ferdinand I. formal-organisatorisch beibehalten, faktisch aber bis zu einem gewissen Grad aufgeweicht wurde, vgl. Grassl 2012, 40–41.
[5] Hirzel 1909, 154–155; Wessely 1958, 391–392.
[6] Beginnend mit Wolfsgruber 1905, 50–51; Mitis 1928, 157.
[7] Wessely 1958, 74–75; vgl. zuvor schon Hirzel 1909.
[8] Vgl. Grassl 2012.
[9] Wessely 1958, 240–241 und 256–257; für die Belege in den niederösterreichischen Gedenkbüchern siehe auch Wessely 1956, 104–105, für jene in den Rechnungsbüchern von Salamanca siehe bereits Mitis 1928, 161, und zuletzt Rill 2003, 49. Zu ergänzen sind Belege in den Raitbüchern der oberösterreichischen Kammer in Innsbruck, aus denen hervorgeht, dass der Pauker Sigmund Neuner 1522 mit neuem Gewand versorgt wurde, um an „den hof zuziehen“ (A-Ila Raitbücher Bd. 71 [1522], fol. 345v), und dass Christoph und Jörg Mayr 1525 die Materialkosten für die Herstellung von Trompetenfahnen vergütet wurden (A-Ila Raitbücher Bd. 74 [1525], fol. 480v).
[10] Wessely 1958, 240, und Rill 2003, 49, lesen „Predor“. Ein Christian Rieder ist seit 1509 als Trompeter Maximilians I. belegt; siehe Senn 1954, 22
[11] Koczirz 1930/31, 532; Wessely 1956, 104–105, 256–257.
[12] Wessely 1958, 241.
[13] Koczirz 1930/31, 532–533; Ferer 2012, 33 46, 65, 69, 78 und 89.
[14] Siehe die Verzeichnisse bei Wessely 1958, S. 394–434.
[15] Ferer 2012, 109 und 117.
[16] Grassl 2011, 126–128; Reimer 1991, 69–77.
[17] Stälin 1860, 385.
[18] D-Asa Baumeisterbücher Bd. 117 (1523), fol. 36r: „Samstag post Letare [20. März] […] Item x guldin x Erzherzog Verdinandus trumetter vnd bawgker“.
[19] Federhofer 1952, S. 42–43; vgl. auch Wessely 1973, 662–669.
[20] Wessely 1973, 667.
[21] D-Asa Baumeisterbücher Bd. 117 (1523), fol. 36r.
[22] D-Asa Baumeisterbücher Bd. 121 (1527), fol. 36r: „Samstag vor Jacobj [20. Juli] / Item ij fl. friedrich lingky und jörg wilden der kunigin zu hungerien zinkenplaser“.
[24] Zu Schubingers Biographie und Bedeutung vgl. » G. Augustin Schubinger, sowie Polk 1989a; Polk 1989b.
[25] Siehe Beispiele bei Grassl 2012, 27–28.
[26] Vgl. dazu Thomas 1993, 48.
[27] Vgl. dazu Welker 1990, insb. 252–257.
[28] Rill 2003, 20; Kohler 2003, 92, 96.
[29] Grassl 2019, 221–230. Vgl. auch Welker 1990, 256–257; Bouckaert/Schreurs 2005.
[31] Vgl. zur Biographie von Jean de Revelles: Göhler 1932, 498-507; Koretz 1970, 42–48; Wessely 1958, 108–110.
[32] Wie aus dem Reisebericht von Laurent Vital, vormals Premier Chambellain von Philipp dem Schönen, hervorgeht. Siehe Gachard 1881, 299.
[33] Siehe die Aufstellungen bei Ferer 2012, 30, 35, 53, 63; Vgl. zuvor schon Duggan 1976, 87.
[34] Zur frühen Karriere Arnolds siehe zuletzt Kirkman 2020, 92–93, 95.
[35] Wessely 1958, 53, 276.
[36] Ferer 2012, 67–72.
[37] Kohler 2003, 119–120.
[38] Senn 1954, 15–16, 45–46, 48, 50–57; vgl. auch Strohm 1993, 519–522; Strohm 2001, 32–34. Zum Wechsel von Musikern zwischen kirchlichen und höfischen Diensten in Innsbruck vgl. auch » I. Music and Ceremony in Maximilian’s Innsbruck; » K. Kap. Institutions, scribes and patrons.
[39] HHStA, Reichskanzlei, Reichstagsakten, 2. Konvolut A I 5, fol. 49r–58v; eine ausführliche Analyse dieser (bislang nicht edierten) Quelle und eine darauf beruhende Rekonstruktion von Ferdinands damaligem Hofstaat liefert Rill 2003, 50–103; vgl. zuvor schon Thomas 1993, 44–45; für eine musikhistorische Auswertung siehe Grassl 2012, 31–35, und darauf fußend Pfohl 2020, 136–139.
[40] Noflatscher 2007, 414.
[42] Noflatscher 2007, 420.
[44] Vgl. an neueren institutionsgeschichtlichen Darstellungen zu den Kapellen Karls des Kühnen, Philipps des Schönen und Karls V.: Fallows 1983, 110–117, 145–159; Meconi 2003, 53–92; Ferer 2012, insb. 126–159; Rudolf 1977, 80–153; Robledo Estaire 1987; Nelson 2000, 114–123; Meconi 2021.
[45] Siehe die Nachweise bei Schweiger 1931/32, 371 und 373–374; Wessely 1956, 122; Reimer 1991, 33; Ehrmann-Herfort 2003, 15–16.
[46] Ferer 2012, 86, 98 und 106; Meconi 2020, 85.
[48] Siehe Weißkunig, Kap. „Wie der jung weyß kunig die musica und saytenspiel lernet erkennen“, hrsg. von Schultz 1888, 80; Triumphzug, Darstellung der „Musica Canterey“ (» Abb. Triumphzug Kantorei, in: I. Instrumentalkünstler am Hof Maximilians I.); Schweiger 1931/32, 366, 371–372; vgl. auch Reimer 1991, 27; Reimer 1999.
[49] Fallows 1983, 112–126; Ferer 2012, 77, 83, 92–93, 98, 248 und 250; Meconi 2020, 85. Zu diesen dessus-Sängern zählte im Übrigen Pierre de la Rue; siehe Meconi 2003, 64. Seit wann genau in die burgundischen Kapellen auch Knaben aufgenommen wurden, ist unbekannt; erstmals belegt sind „petitz enffans“ in einem Personalverzeichnis der Kapelle 1509; siehe Ferer 2020, 45. Allerdings ist in den Itinerarien des Hofes belegt, dass zu den Sängern der Kapelle je nach Gelegenheit Knaben hinzutraten, die anderen Institutionen, etwa solchen des jeweiligen Aufenthaltsortes der Fürsten, zugehörten; vgl. » H. Jugendliche Musiker bei Hofe.
[50] Zu diesem Themenkomplex insgesamt: Thomas 1993, 38–48; Rill 2003, 54–56, 94–99; Kohler 2003, 130–142; Winkelbauer 2003, I, 180–183.
[51] Noflatscher 2007, 412–413; vgl. auch die Übersicht bei Castrillo-Benito 1979, 450–452.
[52] Noflatscher 2007, 413.
[53] Wolfsgruber 1905; 50, 53–56 und 605; Wessely 1958, 103.
[54] Zu Langkusch vgl. Wessely 1958, 120–122; Koczirz 1930/31, 531 und 535.
[55] Zu diesen Kaplänen: Göhler 1932, 509–512, 524–525; Wessely 1958, 110–113, 119–120, 391, 393; Laferl 1997, 221.
[56] Siehe das Verzeichnis der Kapellmitglieder 1527 bei Hirzel 1909, 154–155; Wessely 1958, 391–392. Digitalisat der Originalquelle: https://www.archivinformationssystem.at/detail.aspx?ID=4016011.
[57] Wessely 1958, 75.
[58] Senn 1954, 28; Schweiger 1931/32, 371.
[59] Wessely 1958, 75.
[60] Siehe zum Folgenden Grassl 2012, 36–39.
[61] Vgl. auch Bobeth 2009, 190–192.
Empfohlene Zitierweise:
Markus Grassl: “Kontinuität und Wandel. Die Kapelle Ferdinands I. in den 1520er Jahren” in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/kontinuitaet-und-wandel-die-kapelle-ferdinands-i-den-1520er-jahren> (2022).