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Liturgische Bodenhaftung

Björn R. Tammen

Ob spätmittelalterliche Engelskonzerte von einem „Musikleben im 15. Jahrhundert“ ausgeschlossen[1] oder aber als dessen legitimer Bestandteil, auch eines „Musiklebens in der Region Österreich“, angesehen werden dürfen, hängt wohl vor allem davon ab, was überhaupt als ein musikhistorisch relevanter Befund angesehen wird – und was nicht. Bereits die eher provinziell anmutenden, auf das Jahr 1438 datierten Malereien am Chorgewölbe der Zwickenberger Pfarrkirche St. Leonhard – abgeschieden auf 1002 m Seehöhe im gleichnamigen Bergdorf der Gemeinde Oberdrauburg (Kärnten) gelegen[2] – lassen, neben den sozusagen „harten“ instrumentenkundlichen Fakten, Befindlichkeiten, Motivationen und Vorstellungen der „Menschen von damals“ in den Blick geraten, selbst wenn hier die Instanzen des Künstlers, des Klerikers und des Auftraggebers sowie all jener Gläubigen, denen die Bergkirche als religiöser Mittelpunkt gedient hat, nur eine rein hypothetische Größe sein können.

 

Abb. Engel Zwickenberg

Abb. Engel Zwickenberg

Malereien am Chorgewölbe der Zwickenberger Pfarrkirche St. Leonhard, 1438. In den Gewölbezwickeln unterhalb des Evangelisten Johannes sind zwei Engel mit Schlaufentrompete (links) und Pauken (rechts) sowie Spruchbändern mit Gloria‑Versen dargestellt. Bild: © Institut für Realienkunde – Universität Salzburg.

 

Insgesamt acht Engel sind als relativ kleine Trabantenfiguren in den Gewölbezwickeln, unterhalb der vier ungleich größeren, mitsamt ihren Symboltieren dargestellten Evangelisten, platziert. Als gelte es allzu weltliche Klangvorstellungen in klare Schranken zu verweisen und stattdessen den zeichenhaften Charakter der Engelsmusik durch Rückbindung an die Liturgie hervorzukehren, wird jedem Engel, zusätzlich zu dem von ihm gespielten Instrument, ein begleitender Gloria-Vers als sekundäres Attribut beigefügt – vom eröffnenden „Gloria“-Ruf bis zum „Qui tollis peccata mundi miserere“. Hinsichtlich seiner Zusammensetzung vertritt das Zwickenberger Engelskonzert – bei unverkennbarer Dominanz der Saiteninstrumente – einen durch Beimischung liturgisch-kirchenmusikalischer sowie herrscherlich-repräsentativer Komponenten charakterisierten Standardtypus.

Wohlkalkuliert, zudem im Lichte spätmittelalterlicher Alternatim-Praxis und eines ihrer bevorzugten Einsatzgebiete, dem textreichen Ordinariumssatz des Gloria, kirchenmusikalisch vollauf gerechtfertigt, erscheint die Initialstellung des Orgelportativs zum eröffnenden Ruf „Gloria in excelsis“ (» Abb. Engel Zwickenberg Orgelportativ; » Hörbsp. ♫ Portativ) und seine Kontrastierung durch ein „stilleres“ Pendant, die offenbar als Sinnbild des „Et in terra pax hominibus bone voluntatis“ verstandene Laute (» Abb. Engel Zwickenberg Laute). Sinnvoll erscheint die Evokation des himmlischen Königs durch einen Engelsherold mit moderner Schlaufentrompete („Domine deus rex celestis deus pater omnipotens“), an deren Tubus obendrein ein Wimpel mit Wappenmotiv befestigt ist. Übrigens fügt sich der Trompeter zusammen mit dem im selben Gewölbefeld, unterhalb des Johannes Evangelista, dargestellten Päukleinspieler[3] zu einer geläufigen ensemblepraktischen Einheit (» Abb. Engel Zwickenberg). Hervorgehoben sei schließlich noch die Zuordnung von Fidel und Harfe zu den beiden die Passion Christi in Erinnerung rufenden, gleichlautend anhebenden Versen („Qui tollis pec[c]at[a] mundi…“; » Abb. Engel Zwickenberg Fidel). Dies dürfte auf eine lange Tradition mittelalterlicher Instrumentensymbolik und „mystischer“ Sinngebung zurückgehen, welche den an das Kreuz geschlagenen Leib Christi mit den über ein hölzernes Instrumentenkorpus gespannten (Darm‑)Saiten in Verbindung bringt.[4]

All dies lässt auf komplexe Entscheidungsprozesse hinsichtlich des Gesamtprogramms, der Auswahl und der Anordnung der Musikinstrumente schließen. Schlüssig beweisen lässt sich freilich hier wie auch bei den im Folgenden besprochenen Beispielen nur das Allerwenigste; viel häufiger muss man bei der Bildinterpretation mit Plausibilitäten operieren und sich von Fall zu Fall zwischen den beiden Polen einer womöglich übertriebenen Intentionalität (inklusive moderner Konzepte von Bildpolitik, symbolischer Kommunikation oder auch der Konstruktion kultureller Identität) einerseits, weitgehender Gestaltungsfreiheit mittelalterlicher Künstler selbst auf dem Feld vermeintlicher Nebensächlichkeiten andererseits bewegen.

Man würde das Bedeutungsspektrum spätmittelalterlicher Engelskonzerte – und damit ihre „Repräsentationsleistungen“ – unzulässig verengen, wollte man ihr Signifikat auf gemeinten Gesang reduzieren;[5] dies gilt selbst dort, wo ein Beispiel wie Zwickenberg auf den ersten Blick eine solche Auffassung zu bestätigen scheint. Jede „Wieder-Präsentmachung“ bzw. „(Wieder‑)Vergegenwärtigung“[6] der Engelsmusik erfordert wohl einen Abgleich mit archetypischen Vorstellungen wie jener vom Gloria frohlockender Engel über dem Stall zu Bethlehem (Lk 2,13–14) oder auch dem Klang apokalyptischer „tubae“ gemäß Offenbarung des Johannes; zwischen diesen beiden Polen konnten sich freiere Imaginationen (als „Engelskonzerte“) überhaupt erst sukzessive entwickeln, so dass schließlich Engeln nicht allein Spruchband oder Buch, Horn oder Trompete zugewiesen wurden, sondern hierfür praktisch das ganze Arsenal des mittelalterlichen Instrumentariums zur Verfügung stand. Die solcherart „repräsentierte“ Engelsmusik bringt die nach theologischem Verständnis körperlosen Geistwesen mit irdischen Klangwerkzeugen (zumal solchen, die auch für eine körperbetonte Spielmannskunst stehen [können]) in eine nicht unproblematische Verbindung, was recht schön in der populären Bezeichnung „Engelsmusikant“ zum Ausdruck kommt. Inwieweit dabei von Instrumenten in Engelshand auf „gemeinten“ Gesang rückgeschlossen werden muss oder umgekehrt von „instrumentalen“ Klangvorstellungen ausgegangen werden darf, lässt sich wohl kaum kategorisch festlegen; dies dürfte von Ort zu Ort, von Betrachter zu Betrachter, ja selbst bei ein- und demselben Objekt je nach Rezeptionszusammenhang verschieden gewesen sein. In größeren Zeiträumen gedacht – und der vielzitierten „Macht der Bilder“ Rechnung tragend – könnte jedes neue Engelskonzert sogar einer Konsolidierung der letztgenannten Vorstellung Vorschub geleistet haben.

[1] Bowles 1977, 106.

[2] Tammen 2000, 470 (mit Literatur).

[3] Auf Größendifferenzierung der beiden in verschiedenen Intervallen gestimmten kleinen Kesselpauken wurde offenbar besonderer Wert gelegt.

[4] Vgl. Tammen 2000, 52 (mit Literatur). Derartige Vorstellungen sind, neben Psalmenkommentaren, auch in der Erbauungsliteratur nachzuweisen; so begreift der Verfasser des Alten Passionals (4. Viertel 13. Jahrhundert) den Gekreuzigten als eine Harfe, auf der Gottvater so heftig „spielt“, dass schließlich die Saiten reißen (vgl. Bartels 1997, 86f.). Im Speculum humanae salvationis werden sogar die Kreuzesannagelung Christi und die Erfindung der Musik durch Jubal und seinen Halbbruder, den Schmied Tubalkain, in eine typologische Parallele zueinander gebracht (vgl. Tammen 2003a).

[5] Hierzu vgl. Tammen 2000, 70–73 in Auseinandersetzung mit Hammerstein 1962.

[6] Zu diesen Facetten des Repräsentationsbegriffs siehe Gruber/Mokre (i. Dr.), darin insbesondere die Beiträge von Michael Rössner und Werner Telesko. Zu mittelalterlichen Konzepten der repraesentatio vgl. Zimmermann 1971, der höfischen Repräsentation Ragotzky/Wenzel 1990.