Musik und Verehrung von (Lokal-)Heiligen
Heiligenverehrung im österreichischen Raum
Musik nahm eine wichtige Rolle bei der Verehrung von Heiligen ein.[1] In Kirchen, Klöstern und anderen sakralen Stätten wurden zu Ehren der Heiligen sowohl die Messe als auch das Stundengebet gesungen. Es wurde auch im Rahmen von Prozessionen sowie von anderen Kultusakten, wie z. B. der Vorzeigung von Reliquien, gesungen. In den vorliegenden Abschnitten werden bedeutende Aspekte der Produktion, Überlieferung und Aufführung von einstimmigen liturgischen Gesängen (Gregorianischer Choral) im Kontext der Heiligenverehrung dargelegt werden, die im österreichischen Raum im (Spät-)Mittelalter und in der Frühneuzeit zu beobachten sind.
Das Gebiet der heutigen Bundesrepublik Österreich war in der innerhalb dieses Projektes untersuchten Zeitspanne in etliche Diözesen unterteilt. Den größten Teil nahmen die Erzdiözese Salzburg und die ihr unterstellten Bistümer Passau und Brixen/Bressanone ein. Der östliche Teil (ungefähr das heutige Burgenland) unterstand der Diözese Raab/Györ. Vorarlberg und Tirol gehörten nicht nur zum Bistum Brixen, sondern auch zu den Sprengeln von Chur, Konstanz, Augsburg und Freising. Der südlichste Streifen von Kärnten lag im Bistum (Patriarchat) Aquileia. Innerhalb des Sprengels der Erzdiözese Salzburg wurden im Laufe des Mittelalters vier „Eigendiözesen“ gegründet, die direkt dem Erzbischof (Metropolit) von Salzburg unterstellt waren: Gurk (1072), Chiemsee (1216), Seckau (1218) und Lavant (1228). Auf den Gebieten der Diözese Passau bzw. der Erzdiözese Salzburg wurden im Jahr 1469 die Bistümer Wien und Wiener Neustadt gegründet. Solch eine Unterteilung war von administrativer Bedeutung; sie spiegelte sich aber auch in den lokalen liturgischen Gepflogenheiten wider. In erster Linie ist dies in der Verehrung der jeweiligen Diözesanschutzpatrone zu erkennen. Dazu kommen noch die regional bzw. lokal verbreiteten Heiligenkulte.
Über den Kultus für Diözesan-, Regional- und Lokalheilige sind bereits zahlreiche Veröffentlichungen vorhanden, die den kultur-, liturgie- oder musikwissenschaftlichen Aspekt jeweils untersuchen und hervorheben.[2] In den folgenden Abschnitten werden die für die Musikgeschichte wichtigsten Heiligenverehrungen miteinbezogen.
Bedeutung der Heiligenverehrung für Alltag und Totengedenken
Über die Heiligenverehrung in der kirchlichen Sphäre hinaus, waren die Heiligen nicht lediglich sporadisch anwesend, wie z. B. für die Patronatsfeste, sondern haben das Alltagsleben der Menschen des Mittelalters und der Neuzeit begleitet. Seit dem 14. Jahrhundert berücksichtigte die Namengebung allmählich auch die Namen der Heiligen.[3] Die Heiligenverehrung spiegelte sich in der Zeiteinteilung der Menschen wider. Heiligenfeste waren nämlich, genauso wie Gottes- und Marienfeste, arbeitsfreie Tage.[4] Die Termine der Heiligenfeste dienten zudem als Stützpunkt der Erinnerung an den Zyklus der Jahreszeiten, wie z. B. das Fest Johannes’ des Täufers als Signal für den Sommerbeginn (vigilia am 23.6.) – noch heutzutage werden oft die „Eisheiligen“ aus alter Bauerntradition erwähnt.[5] Diese Traditionen zirkulierten auch unabhängig von kirchlichen Terminen.[6] Heiligenfeste signalisierten auch den richtigen Zeitpunkt für die Fälligkeitstage der Landwirtschaft, wie z. B. im Fall von Koloman für die Ernte der roten Rüben. Ein volkstümliches Patronat mit einem besonderen Bezug auf Musik wird – zumindest im Süden des Landes – der hl. Anna (Marias Mutter) als Patronin der Glocken zugesprochen.[7]
Auch im Zusammenhang mit dem Gedenken an die Verstorbenen findet sich die Heiligenverehrung. Für eine oder mehrere Totenmessen wurden im Spätmittelalter immer öfter Spenden hinterlassen – auch für gesungene Messen. Wer sich das leisten konnte, spendete auch Geld für die Vesper, für nur eine Nokturn oder für die ganze Matutin (d. h. das Nachtgebet, die aus drei Nokturnen besteht). Um die liturgische Feier für eine/n Verstorbene/n zu erweitern, wurde die Messe des Kirchenpatrons oder die zu Allerheiligen dazuzelebriert.[8] Somit kamen Heiligenformulare nicht nur am Festtag oder am Oktavtag, sondern komplett unabhängig vom liturgischen Kalender in Verwendung. Man kann daher sicher davon ausgehen, dass im Laufe des ausgehenden Mittelalters die Totenmesse und das Totenoffizium allmählich öfter gesungen – und gehört – wurden. Dafür wurden neben dem bekannten Requiem aeternam auch andere liturgische Formulare verwendet.[9] Neben den Gesängen des Ordinarium Missae gehörten sie somit zu den am häufigsten wiederkehrenden akustischen Erfahrungen eines Menschen im Bereich der Kirchenmusik.
Hl. Rupert und hl. Virgil
Die wichtigsten Heiligen der Salzburger Kirche sind Rupert und Virgil. Für Rupert wurden zwei Prosaoffizien geschaffen: Eia laude condigna und Hodie posito corpore.[10] Beide sind mit Musik überliefert.[11] Eia laude condigna wurde innerhalb der Stadt Salzburg als Offizium für das Fest der Depositio (27.3.) verwendet. Im Laufe des 14. Jahrhunderts verbreitete sich „in der Erzdiözese Salzburg sowie in den Nachbardiözesen Freising und Passau und auch Augsburg […] eine neue Historia, die auch Eingang in den ersten gedruckten Brevieren findet“:[12] Hodie posito corpore. Dieses Offizium entpuppt sich als „eine Adaptierung des Bernhard-Offiziums, das 1174 zur Heiligsprechung Bernards von Clairvaux geschrieben […] wurde“[13]. Für die Translation (d. h. die Übertragung der Gebeine Ruperts; am 24. oder 25.9.)[14] wurde entweder das Offizium für die Depositio wiederholt, oder es wurden Gesänge aus dem Commune verwendet.[15] Ansonsten ist noch ein Reimoffizium zu Ehren Ruperts bekannt, Presul Rudberte, sint mundo gaudia per te,[16] das hauptsächlich im Gebiet von Passau verbreitet war.[17] Es wurde nur in Brevieren aus dem 15. Jahrhundert ausfindig gemacht – also ist gemäß dem aktuellen Forschungsstand für dieses Offizium keine Musik bekannt. Außerdem wurde für Rupert „der einzige Eigenhymnus Eia fratres extollamus gesungen“.[18]
Für die Messe zum Fest der Translation wurde in Seckau das Alleluja Norica Rudberti komponiert.[19] Dazu kommt noch die Propriumssequenz Christe genitoris et spiritus sancti gloria.[20] „Ab dem 14. Jahrhundert ist in wenigen Seckauer und Vorauer Handschriften eine weitere Rupertsequenz nachweisbar: Summi regis in laude Bavaria plaude. Sie ist vor allem für den Oktavtag der Translatio gedacht.“[21]
Auch die liturgische Verehrung von Virgil kannte zwei Termine.[22] Die Depositio (27.11.) wurde „in den Diözesen der Kirchenprovinz Salzburg […] sowie in Trient gefeiert; das Fest der Translatio Virgilii (26. September) lässt sich in den Diözesen Salzburg, Brixen und Passau nachweisen. Für die Liturgie des Stundengebetes wurden für beide Virgil-Feste meist die Gesänge des Commune […] verwendet oder man übernahm – wie auch in der Messe – die Gesänge des Festes der Depositio (ggf. der Translatio) Rudperti“,[23] d. h. das Rupert-Offizium Hodie posito corpore. Außerdem verbreitete sich im Spätmittelalter in der Kirchenprovinz Salzburg das „Reimoffizium Pangens chorus dulce melos (AH 5, Nr. 93). Es lässt sich jedoch erst seit der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts nachweisen.“[24] (» Hörbsp. ♫ Firmamentum ecclesie, » Hörbsp. ♫ Huius diei gloria, » Hörbsp. ♫ Vere felicem exulem.) Darüber hinaus ist noch „das Virgil-Reimoffizium Beati Virgili festa celebremus (AH 5, Nr. 92) bekannt; es ist bisher nur textlich nachweisbar.“[25]
Hl. Stephan, hl. Barbara und hl. Ursula
Für das Fest der Auffindung der Gebeine des hl. Stephan, des ersten Märtyrers (Inventio S. Stephani; 3.8.) wurde in der Diözese Passau, zu deren Diözesanschutzpatronen Stephan gehört, das Offizium Ostendit sanctus Gamaliel gesungen; in Salzburg und Brixen wurde hingegen das Formular vom Gedenktag Stephans (26.12.) wiederholt.[26]
Zwei Heilige, die allgemein Verehrung genossen und somit in ganz Europa zu finden sind, sind Barbara und Ursula (4.12. bzw. 21.10.). Sie wurden aber in den Diözesen Salzburg und Passau mit unterschiedlichen Formularen für das Stundengebet gefeiert. Dies ist auch an zwei Marienfesten zu beobachten: Mariä Heimkehrung und Mariä Empfängnis (Visitatio Mariae am 2.7. und Conceptio Mariae am 8.12.).[27] Die Verwendung unterschiedlicher Formulare bringt selbstverständlich mit sich, dass auch die musikalische Gestaltung unterschiedlich ist. Die Gläubigen aus zwei Nachbarpfarreien, wovon die eine innerhalb der Erzdiözese Salzburg und die andere im Bistum Passau lag, hörten also mehrmals im Laufe des Jahres an demselben kirchlichen Fest nicht dieselben Melodien.
Hl. Koloman
2014 wurde das tausendjährige Jubiläum der Übertragung der Gebeine des hl. Koloman (†1012) gefeiert. Er ist kein tatsächlicher Diözesanschutzpatron, seine Verehrung ist aber großregional verbreitet. Kürzlich wurden den einstimmigen liturgischen Gesängen zu Ehren Kolomans zwei Beiträge gewidmet.[28] Es seien hier bündig die wichtigsten Aspekte zusammengefasst.
Koloman ist der Hausheilige des Benediktinerstiftes Melk. Der dies natalis (Todestag) ist unbekannt – der gefeierte Termin ist eigentlich das Translationsfest (13.10.). Zu Ehren des hl. Koloman wurden das Offizium Fons et origo boni, ein Alleluja sowie die zwei Sequenzen Coelestis te laudat und Letabundus fidelis komponiert.[29] Alle anderen Propriumsgesänge der Messe wurden sogar auch in Melk dem Commune unius martyris entnommen. Zudem wurden Koloman sechs Hymnen gewidmet (bzw. umgewidmet), drei davon wurden von Christan von Lilienfeld gedichtet.[30] Für die Hymnen ist gemäß dem heutigen Stand der Forschung keine Melodie bekannt. Das Offizium Fons et origo boni ist zwischen 1089 und ca. 1170 entstanden, vielleicht in der Amtszeit von Abt Erchenfrid (1121 bis 1160/1163).
Außerhalb von Österreich sind Koloman gewidmete Kultusstätten auch in Deutschland (besonders in Bayern), Italien (Südtirol), Slowenien und Ungarn zu finden. Sein Fest war in allen Kalendern der Kirchenprovinz Salzburg eingetragen.[31] Obwohl man den hl. Koloman im süddeutschen Sprachraum und in den Nachbarländern auch sehr verehrte, wurde das komplette Offizium Fons et origo boni (fast ausschließlich?) in Melk gesungen.[32] Die Sequenzen erfuhren eine größere Verbreitung. Laetabundus fidelis erscheint mit Notation im von Johannes Winterburger gedruckten » Graduale Pataviense aus dem Jahr 1511.[33] Das Fest des hl. Koloman ist auch in Missalen zu finden, die eine Passauer-ungarische Mischtradition aufweisen.[34]
Der hl. Koloman nimmt sowohl politisch-historisch als auch volkstümlich gesehen in der Geschichte Österreichs seine Bedeutung ein.[35] Die Babenberger und die Habsburger haben mehrmals versucht, einen Bischofsitz in Wien zu gründen. Zu diesem Zweck wurden das Schottenstift und in noch größerem Ausmaß der hl. Koloman mit ins Spiel gebracht. Ein Beweis dafür ist auch die sogenannte, nicht nur Virgil gewidmete „Virgilkapelle“: ein unterirdischer Raum nah am Wiener St. Stephansdom, dessen Achse auf den Punkt des Sonnenaufgangs am 13.10. orientiert ist.[36] Zudem wurde im Jahr 1361 nach dem Willen Rudolfs IV. des Stifters der sogenannte Kolomanistein, der Stein, worauf Koloman gemartert wurde, beim nordwestlichen Eingang des Wiener Stephansdoms eingemauert (Bischofstor).
Lokal beschränkte Heiligenverehrung
Es werden in diesem Kapitel drei Fallstudien zum Thema „sehr lokal beschränkte Heilige“ präsentiert. Diesbezüglich sind wir in der Lage, behaupten zu können, dass – zumindest in einer einzigen Kirche – Eigenformulare in Verwendung waren.
1155 stiftete Heinrich II. Jasomirgott in Wien die Benediktinerabtei „Unserer Lieben Frau zu den Schotten“, besser unter dem Namen „Schottenstift“ bekannt. Das Stift wurde mit Mönchen aus dem St. Jakobskloster in Regensburg besiedelt, und bis zum Jahr 1418 lebten dort Benediktinermönche irischer (nicht schottischer) Herkunft.[37] Zeugen des Musiklebens im Schottenstift während dieser frühen Phase sind zirka 60 Fragmente von liturgisch-musikalischen Handschriften.[38] Die „irischen“ Fragmente des Schottenstiftes gelten als die ältesten musikalischen Denkmäler der Stadt Wien; sie sind auch für die Erforschung der irischen Tradition von einstimmigen liturgischen Gesängen des Mittelalters von höchster Bedeutung.
Ein Fragment des Archivs des Schottenstiftes aus dem späten 12. Jahrhundert belegt die besondere Verehrung des hl. Kilian (und Gefährten; Fest am 8.7.) seitens dieser Mönchsgemeinschaft.[39] Das damals dort dafür gesungene liturgische Formular kommt nicht aus dem Regensburger Mutterkloster, sondern stammt ursprünglich aus Würzburg, wo der irische Bischof Kilian gemartert wurde. Obwohl Kilians Fest im liturgischen Kalender aller Diözesen der Salzburger Provinz eingetragen ist,[40] kann man behaupten, dass eine komplette Matutin aus dem Eigenoffizium nur dort gesungen wurde, wo dem hl. Kilian eine besondere Verehrung zugewiesen wurde – wie eben im Schottenstift, oder im Kloster Lambach, dessen Schutzpatron Kilian ist.[41] Im Schottenstift wurde auch für ein anderes Fest ein besonderes Eigenoffizium gesungen, das sonst im österreichischen Raum durchaus nicht üblich ist. Es handelt sich um das Fest des hl. Patrik (17.3.), Vater der irländischen Kirche, das in der Salzburger Provinz nur im Salzburger Kalender Eingang fand.[42] Ebenfalls ist dies im Schottenstift durch ein Fragment aus dem späten 12. Jahrhundert belegt.[43] Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass, von wenigen Einzelfällen abgesehen, diese Tradition bis zum Jahr 1418 in Wien ausschließlich im Schottenstift beibehalten wurde.
Der hl. Agapitus ist in den liturgischen Kalendern aller Diözesen der Kirchenprovinz Salzburg eingetragen[44], insbesondere ist er Schutzpatron des Stiftes Kremsmünster. Zu seiner Verehrung wurden dort drei Zyklen von Gesängen verwendet: für das Fest am 18.8., während der Oktav und für den Oktavtag.[45] Diese Formulare bestehen überwiegend aus Stücken, die dem Commune oder aus Formularen anderer Heiliger entnommen wurden (Vincentius, Martinus). Zu Ehren des hl. Agapitus sind im ältesten Brevier von Kremsmünster (» A-LIb Hs. 290, fol. 341v–342v)[46] drei Antiphonen vorhanden,[47] wofür „keine mögliche Vorlage-Antiphon festgestellt werden“[48] kann. Es liegt nahe, dass sie neue Kremsmünsterer Schöpfungen sind. Was hier für uns von Interesse ist, ist die Tatsache, dass die Kirchengänger, die sich zur Vesper, oder zum Morgengebet, oder zur Non in der Stiftskirche befanden, drei unica (Unikate) hören konnten. Die Agapitus-Magnificatantiphon[49] wurde nachweislich bis Ende des 15. Jahrhunderts noch verwendet – die Kremsmünsterer haben zur Vesper ihres Patrons noch an der Schwelle zur Neuzeit ein Unikat miterlebt.
Für die liturgische Feier zu Ehren der hl. Hemma von Gurk wurden das Reimoffizium Collaudemus in amore[50] samt den Hymnen Consurgat laeta concio für die Vesper und Omnis decora pectore für die Laudes,[51] sowie ein gereimter Allelujavers und die Sequenz O Ierusalem superna verfasst.[52] Sie waren im Bistum Gurk, oder vielleicht gar nur im Gurker Dom, in Verwendung.[53] In seiner Untersuchung aus dem Jahr 1988 konnte Franz Karl Praßl aber keine Melodien ausfindig machen.[54]
Heiligenverehrung an der Wiener Universität
Die Heiligenverehrung fand ihren Platz auch innerhalb festlicher Akte der 1365 von Rudolf IV. gegründeten Wiener Universität. Im 15. Jahrhundert war der Kolomanitag ein offizieller Feiertag, später dann der Leopolditag (13.10. bzw. 15.11.). Trotzdem war das Fest Kolomans für die Alma Mater Rudolfina immer ein Tag besonderer Bedeutung: Er bildete den Auftakt für das Wintersemester und es wurde – abgesehen von wenigen Ausnahmen – an diesem Tag traditionell die Rektorswahl durchgeführt.[55] Wurde dabei eine Messe gefeiert, liegt es daher nahe, dass währenddessen eine Koloman-Sequenz gesungen wurde.
Am Leopolditag fand kein Unterricht statt und Studenten und Professoren versammelten sich, um am feierlichen Gottesdienst im Stephansdom teilzunehmen. Vermutlich erklangen dort die Orgel[56] und mehrstimmige Musik, sicherlich kam die liturgische Einstimmigkeit zum Einsatz.[57] Es ist durchaus denkbar, dass für die Gesänge des Proprium Missae das Leopold-Formular gesungen wurde. Für die Vesper werden sie sich seit 1506 sicherlich des Offiziums Ecclesia sancta bedient haben.[58] Für den Zeitraum von 1485 bis 1505 ist bisher nicht näher bestimmbar, welches Formular verwendet wurde. (vgl. Kap. Hl. Leopold und Kap. Die Translatio des hl. Leopold)
Hl. Leopold
Im Jahr 1136 starb der babenbergische Markgraf Leopold III., Stifter von Klosterneuburg und Heiligenkreuz sowie Mitgründer von Kleinmariazell im Wienerwald. Nach einem langwierigen Kanonisationsprozess wurde er am 6. Januar 1485 heiliggesprochen. In der kurzen Zeitspanne zwischen ca. 1484 und 1487 wurden für die Liturgie zu Ehren Leopolds drei vollständige Offizien und acht Gesänge für das Proprium Missae erschaffen,[59] darunter zwei Sequenzen.[60] Die Melodien dazu wurden gleichzeitig oder bis spätestens Anfang des 16. Jahrhunderts komponiert. Es wurden überdies vier Hymnen gedichtet;[61] für zwei davon sind auch die Melodien überliefert.[62] Zudem ist noch der Tropus Largus erat olim zu erwähnen (vgl. Kap. Das Alleluja Christe nate patris).
Wie einem Brief des Klosterneuburger Priors List vom 20. November 1484 zu entnehmen ist, war das Offizium Ecclesia sancta bereits vor der Heiligsprechung vollendet[63] – zumindest die Texte davon. Die älteste notierte Quelle dafür ist eine Handschrift im Chorformat der Stiftsbibliothek von Klosterneuburg (» A-KN Cod. 59, fol. 1r–8v). Sie stammt aus den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts.[64] In der Diözese Passau setzte 1487 die Feier des Leopoldi-Festes (15.11.) mit dem Offizium Austria laetare ein.[65] Die älteste Quelle ist die in der Benediktinerabtei zu Melk aufbewahrte Handschrift » A-M Cod. 937 (S. [!] 147–161), die explizit mit 1487 datiert ist. Die älteste Quelle mit musikalischer Notation stammt von ca. 1490; bemerkenswerterweise ist sie ein Druckwerk: » Incipit hystoria de sancto Leopoldo (» Abb. Gedruckte liturgische Formulare zu Leopold).[66] Auch das erste Zeugnis des Offiziums Virga directionis[67] sowie der Melodien für die Messe befinden sich in der Handschrift A-M 937 (S. 165–181 bzw. 181–192).[68] Rudolf Reiner unterscheidet zwei verschiedene Fassungen dieses Offiziums: eine „von Melk-Passau“, mit langen Lesungen für die Matutin, und jene „von Klosterneuburg“ mit kurzen Lesungen.[69] Erstgenannte kennt für die erste Vesper nur die Antiphon A solis ortu. Alle Leopold-Offizien sind nach dem cursus Romanum der Liturgie aufgebaut. Ecclesia sancta und Austria laetare weisen eine modale Anordnung der Gesänge auf: die Abfolge der verwendeten Modi spiegelt die Reihenfolge des Oktoechos wider.[70]
Es ist durchaus möglich, dass zwischen 1487 und 1506 jemand, der die Vesper zu Ehren des hl. Leopold einer Ortschaft auf dem Land – wie z. B. Kirnberg an der Mank in Niederösterreich[71] – (und auch in Wien?) besuchte, eine andere musikalische Aufführung hörte, wie jemand, der am selben Tag nach Klosterneuburg gepilgert war. Zum selben Anlass erlebten die Gläubigen in der Stiftskirche zu Melk wiederum stets eine unterschiedliche Fassung.
Ähnlich ist es teilweise auch innerhalb der Messe geschehen. Je zwei verschiedene Alleluja sowie Sequenzen sind bereits in der mit 1487 datierten Handschrift A-M 937 überliefert. Diese vier Gesänge sind auch im Wiegendruck Incipit hystoria de sancto Leopoldo (» Abb. Gedruckte liturgische Formulare zu Leopold) zu finden.
Die Translation des hl. Leopold
1506 wurden die Gebeine Leopolds im Rahmen einer offiziellen translatio übertragen. Man kann davon ausgehen, dass während der Zeremonie und der Prozession auch Responsorien aus Leopold-Offizien gesungen wurden. Weitere Forschungen werden vielleicht eine genaue Bestimmung der tatsächlich verwendeten Gesänge ermöglichen. Forthin wurde dann das Offizium Austria laetare für das Fest der Translation (15.2.) verwendet.
An der feierlichen Übertragung nahmen Kaiser Maximilian I. und mehrere Bischöfe teil. Die Anwesenheit Maximilians hatte auch eine politisch-repräsentative Bedeutung: der Kaiser trat im herzoglichen Ornat auf. Er bezweckte damit, sich auch bei dieser nur einmal stattfindenden religiösen Handlung als direkter Nachfolger der Babenberger zu präsentieren. Der hl. Leopold fand auch im Wiener Humanistenkreis Resonanz: So dichteten Johannes Cuspinian, Johannes Panecian und Konrad Celtis Texte auf den Heiligen.[72]
Drucke von Musik zum hl. Leopold
Die editio princeps des Offiziums Ecclesia sancta wurde bald nach der Kanonisation Leopolds gedruckt. Es folgten fünf liturgische Drucke mit den Offizien, Gebeten und Propriumsgesängen für die Messe, welche in der weiter unten folgenden Tabelle aufgelistet sind. Es handelt sich um kleinformatige Faszikeln mit wenigen Blättern, meistens nur mit schwarzer Tinte und ohne Dekoration gedruckt. Winterburgers Ausgabe hingegen enthält einen Holzschnitt sowie verzierte Anfangsbuchstaben und ist sorgfältig und zweifarbig gedruckt.
Die Einführung der Feste Leopolds fällt in eine Blütezeit der liturgischen Drucke. Das für diese Buchgattung relativ neue Medium wurde für die Verehrung Leopolds prompt zum Einsatz gebracht. Die Herstellung von gut sechs Ausgaben von Extra-Heften (supplementum, Nachtrag) mit den Formularen zu Ehren Leopolds – und dazu kommen noch die Breviere und Missalen – beweist das große, nicht allein religiöse, sondern auch politische Interesse, dieses neue Fest an den kirchlichen Institutionen möglichst schnell zu verbreiten.
Nur eines der eben genannten liturgischen Hefte ist auch eine musikalische Quelle. Der Druck Incipit hystoria de sancto Leopoldo ist mit gotischer Choralnotation versehen und wird der Offizin von Johannes Petri zugeschrieben. Die Druckfehler dieses Heftes kann man bei der Ausführung der Gesänge unmöglich übersehen: lange Segmente der Melodie wurden um eine Terz falsch wiedergegeben. Ein erfahrener Sänger hätte dies sofort bemerken müssen und das Problem durch die Einfügung bzw. Verbesserung von Schlüsseln überwunden. Die Häufigkeit, mit der solche Fehler auftreten, lässt sich so erklären: der Setzer von Petri war mit Musik nicht vertraut und/oder die Vorlage war fehlerhaft. Man kann die Schlussfolgerung ziehen, dass das Interesse überwiegend darin lag, die Texte und das Fest zu verbreiten und weniger die Melodien.
Gedruckte Hefte mit liturgischen Formularen zu Ehren des hl. Leopold
Titel/Incipit
Ort
Drucker
Jahr
Inhalt
Officium S. Leopoldi Marchionis
[Wien]
[Drucker der Historiae von S. Rochus]
ca.1485
Ecclesia sancta;
MesseHistoria de sancto Leopoldo Marchione
(In festo sancti Leopoldi confessoris
non pontificis officium)[Passau]
[Johann Petri]
ca.1488
Austria laetare;
MesseOfficium S. Leopoldi
(In festivitate sancti Leopoldi confessoris
non pontificis secundum rubricam Romanam)[Passau]
[Johann Petri]
ca.1488
Virga directionis;
MesseHystoria sancti Leopoldi
(In festivitate sancti Leopoldi confessoris
non pontificis marchionis Austrie
secundum rubricam ecclesie Pataviensis)[Passau]
[Johann Petri]
ca.1489
A solis ortu
(Virga directionis);
MesseIncipit hystoria de sancto Leopoldo (Rubrik)
[Passau]
[Johann Petri]
ca.1490
Austria laetare;
Messe (mit Notation)Hystorie de festo et translatione
divi Leopoldi marchionis AustrieWien
Johannes Winterburger
[1506]
Austria laetare (T);
Ecclesia sancta;
Messe(Vgl. Paul 2008, 21–50, sowie Incunabula Short Title Catalogue (http://www.bl.uk/catalogues/istc/index.html) und RELICS (http://quod.lib.umich.edu/r/relics/), wo auch auf die Nachschlagewerke hingewiesen wird. Die Informationen in Klammern sind im Original nicht vorhanden. Lediglich RELICS verweist auch auf folgendes Buch: Lectiones, responsoria, hymnus et missa pro S. Leopoldi Archiducis Austriae festivitate, Augsburg: Hans Froschauer, ohne Jahr.)
Ohne Notation sind außerdem die Formulare für Leopold in gedruckten Missalen der Diözesen Passau und Salzburg sowie in gedruckten Brevieren für Passau zu finden.[73] In dem Antiphonar (» Antiphonale Pataviense), das im August 1519 Johannes Winterburger in Wien druckte,[74] sind die Melodien der Offizien Austria laetare (fol. 107v–110r) und Ecclesia sancta sowie des Hymnus Austriae decus princeps (fol. 227v–229v) enthalten.
Bemerkenswert ist das vom Prior Balthasar Polzmann verfasste » Compendium vitæ miraculorum,[75] das im Jahr 1591 im Stift Klosterneuburg gedruckt wurde. Innerhalb dieses historischen biographischen Werkes auf Lateinisch sind die zwei letzten Kapitel gar keine Abhandlung: Sie enthalten die Offizien Austria laetare und Ecclesia sancta. Trotz dem irreführenden Anschein kann man dieses Buch als einen zuverlässigen Zeugen der in Klosterneuburg am Ende des 16. Jahrhunderts gefeierten Liturgie einstufen und behaupten, dass sie der ein Jahrhundert vorher etablierten Form der liturgischen Verehrung Leopolds vollkommen treu geblieben ist – dies gilt zumindest für die Texte.
Das Alleluja Christe nate patris
Auf S. 184 der Handschrift » A-M Cod. 937 befindet sich das Alleluja Christe nate patris.[76] Am oberen Rand wurde von einer etwas späteren Hand folgende Notiz niedergeschrieben: „Si placet ponatur sub melodia alleluia Christe nate patris Largus erat olim pater orphanorum larga dei virtus salvet nos per illum.” Dies kann folgendermaßen übersetzt werden: „Nach Beliebigkeit auf die Melodie [des] Alleluja Christe nate patris [den Text] singen: Largus erat olim usw.“ Diese Anmerkung enthält den Hinweis für die Hinzufügung einiger Worte, die auf der Akklamation gesungen werden sollen. Es handelt sich um einen textlichen Tropus: eine Alleluja-Prosula. Der Text des Tropus besteht aus einem Vierzeiler sechssilbiger Verse. Durch die Anfangsbuchstaben der ersten neun Wörter entsteht das Akrostichon LEOPOLDVS. Die Anzahl an Silben ist um einiges höher als diejenige der Noten des Jubilus (Endmelisma der Akklamation) – Es müssen die Noten der Kadenz (alleluia) einbezogen werden. Im Notenbeispiel wird ein Rekonstruktionsversuch dargeboten (» Notenbsp. Christe nate patris)
Obwohl der Text Largus erat olim ein sehr besonderer ist, ist er kein Einzelfall. Im Rahmen des Stundengebets und der Messe taucht er noch ein weiteres Mal auf, nämlich als Allelujavers im allerersten Druck mit liturgischen Formularen zu Ehren des hl. Leopold: dem der Inkunabelforschung nach in Wien vom Drucker der Historiae von S. Rochus um das Jahr 1485 gedruckten Officium sancti Leopoldi Marchionis. Sowohl als Tropus als auch als Allelujavers ist Largus erat olim nur einmal in den Quellen zu finden: Es handelt sich also hier um zwei unica. Zudem sei noch der Besonderheit Aufmerksamkeit geschenkt, dass der Text in beiden Fällen in Zusammenhang mit dem Alleluja erscheint; allerdings mit einer unterschiedlichen Funktion: einerseits als strukturelles Glied – der Allelujavers kann nicht weggelassen werden –, andererseits als ein fakultatives, zugefügtes Element. Schließlich zeichnet sich der Tropus Largus erat olim durch seine Entstehungszeit aus: Er beweist das Überleben eines typisch mittelalterlichen Phänomens, die Tropierung, im österreichischen Raum noch an der Schwelle zum 16. Jahrundert.
Das Wiener Heiligtum
Im Jahr 1483 wurde ein Heiltumstuhl in der direkten Nähe des Wiener Stephansdoms erbaut.[77] Dort fand jährlich ein besonderer Kultusakt statt. Es wurden die Reliquien zur Verehrung vorgezeigt, die im Stephansdom aufbewahrt wurden: das Wiener Heiligtum. Dies wird u. a. durch ein Büchlein dokumentiert, das Johannes Winterburger 1502 in Wien druckte: das Wiener Heiltumbuch. 1514 wurde eine zweite, leicht erweiterte Auflage davon herausgegeben.
Diese besonders künstlerisch gestaltete Veröffentlichung enthält eine „Vorred“ mit einem Verzeichnis der Ablässe und eine „Geschlusrede“, wo „als Herausgeber […] der Wiener Bürger und Ratsherr Matthäus Heuperger genannt“[78] wird. Das gesamte Buch ist in deutscher Sprache. Die letzten Seiten enthalten einen Kalender, in dem für jeden einzelnen Tag des Jahres ein Heiligenfest verzeichnet ist, samt der (manchmal beträchtlichen) Anzahl an Ablasstagen. Obwohl es sich hier nicht um einen liturgischen bzw. Diözesankalender handelt, sind die wichtigsten Feste mit roter Tinte hervorgehoben.[79]
Allem Anscheinen nach hat das Buch seine Entstehung lediglich der Frömmigkeit Matthäus Heupergers zu verdanken. Allerdings ist offenkundig, dass eine solche Veröffentlichung auch dem Repräsentationszweck diente. Die erste Seite bildet einen Ritter mit Rüstung, Schwert und Fahne ab, rechts und links von ihm das Wiener Wappen bzw. ein Wappen mit doppelköpfigem Adler – der Kaiser selbst? Der letzte Holzschnitt, ein makabres memento mori, enthält ein chiffriertes Wappen des Passauer Bischofs Wiguleus Fröschl (1500–1517).
Der Hauptteil des Buches ist in acht Einheiten gegliedert, welche die acht Teile der Zeremonie widerspiegeln. Diese religiöse Handlung fand „alle iar an sontag nach dem Ostertag“[80] statt. Während der „acht procession oder umbgeng“[81] wurden Reliquien und Devotionalien zur Verehrung dargeboten. Die acht Gruppen waren inhaltlich gleich und nach folgender Hierarchie angeordnet: Christus, Maria, Apostel, Märtyrer, Bekenner und Jungfrauen. Es wurden Kreuz- sowie Heiligenreliquiare, Monstranzen, Vasa sacra, Bücher, Kleinodien usw. vorgezeigt.
Obwohl das Buch musikalischer Notation entbehrt, ist es doch möglich ein genaues Klangbild dieses Kultusakts zu rekonstruieren. Das Wiener Heiltumbuch dokumentiert, dass bei jeder Vorzeigung ein Gesang angestimmt wurde. Es stehen bloß die Textincipits geschrieben, so z. B. „Der Erst umbgang Singt man die Respons. Hoc signum crucis“[82]. Es handelt sich ausschließlich um Responsorien. Der Grund, dass nur Gesänge dieser Gattung und keine Antiphonen verwendet wurden, könnte darin liegen, dass normalerweise ein Responsorium eine längere Dauer als eine Antiphon hat und dass durch seine dreiteilige Form die Möglichkeit besteht, die Art der musikalischen Ausführung abzuwechseln (wie z. B. Solo und schola). Dass diese Stücke musikalisch ausgeführt wurden, belegen die Verwendung des Verbs „singen“ und die „Vorred“: Die gläubigen Zuschauer sollen nämlich „die Erklärung was ein jedes Stück sein, und den Lobgesang, der dazwischen gesungen wird, hören und bedenken […]“[83].
In der Tabelle » Abb. Gesänge und Umgänge des Wiener Heiligtums sind die Gesänge aufgelistet, die während der acht „Umbgänge“ gesungen wurden. Die Responsorien sind dem liturgischen Formular eines jeweils passenden Festes entnommen: für Christus aus den Formularen für das Fest der Erfindung des Kreuzes und für Gründonnerstag; für die Gottesmutter aus dem Fest Mariä Geburt;[84] für die Apostel, Märtyrer, Bekenner (Beichtiger, confessores) und Jungfrauen aus dem jeweiligen Commune.[85] Es handelt sich hauptsächlich um Responsorien der Matutin. Die Reihenfolge der Modi ergibt keine modale Anordnung, der Wechsel zwischen erstem und einem anderen Modus mag hier zufällig sein.
Der Grund für zwei „Prozessionen“ für Christus sowie für die Märtyrer liegt höchstwahrscheinlich in der hohen Anzahl an vorhandenen Reliquien. Die gesamte Zahl acht trägt die symbolische Bedeutung des Tages des Letzten Gerichtes und der definitiven Rettung des Menschengeschlechts.
Dürers „Österreichische Heilige“
Im Folgenden wird eine besondere Gruppe von Heiligen betrachtet. Sie ist hier aus kulturwissenschaftlicher Sicht als Gruppe relevant, jedoch sind nicht alle dieser Heiligen von musikgeschichtlicher Bedeutung.
In einem Albrecht Dürer zugeschriebenen Holzschnitt von ca. 1515–1517 sind acht „österreichische Heilige“ dargestellt (» Abb. Dürers „österreichische Heilige“).[86] Jeder der acht Männer ist von einem Heiligenschein umgeben und wird von einer darunter liegenden Inschrift vorgestellt, worin nach dem Prädikat sanctus (abgekürzt als „S.“) Name und Titel geschrieben stehen. Die Heiligen sind mit den jeweiligen zu ihnen passenden Gewändern und mit den ihnen zugehörigen Attributen porträtiert (Bischofsmütze und Hirtenstab, Ritterrüstung und Schild, Pilgerhut und -stab sowie Strang, Krone und Wappen, Palmzweig, usw.). Es handelt sich um folgende Heilige (von links nach rechts): Quirinus (Bischof und Märtyrer), Maximilian (Bischof und Märtyrer), Florian (Märtyrer), Severin von Norikum, Koloman (Märtyrer), Leopold (Markgraf), Poppo (Bischof), Otto (Bischof).
In dieser Gruppe finden sich zwei historische Persönlichkeiten, die anscheinend in einer bestimmten Epoche und in bestimmten Kreisen gerne als Heilige angesehen wurden: Poppo, Erzbischof von Trier (†1047)[87], und Otto, Bischof von Freising (†1158).[88] Allerdings sind sie keine Heiligen im eigentlichen Sinne; weder entstand eine Verehrungstradition, noch wurden sie kanonisiert – daher fanden sie nie Eingang in die Liturgie.[89] Poppo und Otto teilen sich noch eine Eigenschaft: Sie stammen aus der Familie der Babenberger. Poppo war ein Sohn des Markgrafen Leopold I., Otto der fünfte Sohn Leopolds III., der ebenfalls in dieser Abbildung von „österreichischen Heiligen“ erscheint. Otto und Poppo wurden offensichtlich wegen ihrer familiären Abstammung in diese Gruppe aufgenommen. An die Seite des 1485 heiliggesprochen Leopolds III. wollte man andere Mitglieder des Herrschergeschlechtes der Babenberger setzen.
Quirin und Maximilian werden als Titulare eines nicht historischen Bistums genannt: die Erzdiözese Lorch (Lauriacum). Das (legendäre) Bistum Lorch gilt als Vorfahre der Diözese Passau. Die Beförderung zur Erzdiözese machte der letztgenannten und den österreichischen Ländern alle Ehre.
Es fehlen allerdings in dieser Darstellung einige Persönlichkeiten, die im österreichischen Raum wirkten und für die tatsächlich eine liturgische Verehrung stattfand, wie z. B. die hl. Hemma von Gurk oder der hl. Nonnosus von Molzbichl in Kärnten (und von Freising).[90] Dazu kann noch der als Heiliger verehrte Passauer Bischof Altmann (†1091) erwähnt werden. Darüber hinaus mag es kein Zufall sein, dass die Salzburger Heiligen nicht berücksichtigt wurden, selbst nicht der hl. Rupert.[91]
Die Auswahl der „Heiligen“ und die Entstehung dieses Holzschnitts sind mit der „Sipp-, Mag- und Schwägerschaft“[92] Kaisers Maximilian I. und mit seiner Entourage in Verbindung zu bringen. Dieses Bild diente nicht allein einem religiösen Zweck, sondern vielmehr einem politischen. Dies ist u. a. an der Figur von Markgraf Leopold ersichtlich: Er hält kein Kirchenmodell. D. h. er wird nicht wie üblich als Stifter dargestellt, sondern als Herrscher mit Hermelinmantel, dem Szepter, dem Wappen, sowie dem Herzogshut – was ein offenkundiger Anachronismus ist. Eine solche Darstellung entstand primär aus Repräsentationsgründen, wohl weniger für die (private) Frömmigkeit und durchaus nicht für die (offizielle) Liturgie. Hier überschreitet die Heiligenverehrung, wie es u. a. für Koloman und Leopold auch sonst zu beobachten ist, die Tür der Sakristei, um Eintritt in die Ratskammer zu erlangen.
[1] Marienverehrung sowie Herrenfeste werden in dieser Abhandlung nicht mit einbezogen.
[2] Groß angelegte Werke sind z. B. Grabmayer 1994 (zur Heiligenverehrung siehe besonders S. 74–118) und Frankl/Tropper 2001. Zu den politischen Aspekten siehe Lammer 2000.
[4] Vgl. Tropper 1996, 138 und Amon 1993, 131.
[5] Es handelt sich um folgende Heilige: Mamertus, Pankratius, Servatius, Bonifatius und Sofia; Feste vom 11. bis 15.5.
[6] Beispielsweise sind unter den „Eisheiligen“ im Passauer und Brixner Kalender nur Pankratius und Servatius eingetragen, im Salzburger Kalender lediglich Pankratius (vgl. Karnowka 1983, 32).
[9] Beispielweise sind zwei Zyklen von Propriumsgesängen für die Totenmesse (Si enim credimus und Requiem aeternam) in der um 1500 (spätestens 1516) angefertigten Handschrift A-Wn Mus. Hs. 15501 vorhanden, die eine besondere Auswahl des Repertoires für eine hussitische Gemeinschaft in Kuttenberg/Kutná Hora enthält. Für eine Beschreibung von A-Wn 15501 siehe Webseite des Projektes „Musikalische Quellen des Mittelalters in der Österreichischen Nationalbibliothek“ (http://www.cantusplanus.at/de-at/fertig.htm) und Merlin 2012b, besonders Anhang 1. Zu den Formularen der Messe siehe auch Gay 1957; zu jenen des Stundengebets siehe Ottosen 1993.
[10] Zur Entstehung, Überlieferung und musikalischen Gestalt beider Offizien siehe Holzer 2012, 28–72; siehe auch Praßl 1996.
[11] Edition beider Offizien in Holzer 2012, 87–125 und 129–151. Rekonstruktion der originalen Gestalt einiger Gesänge in Engels 1996.
[12] Praßl 1996, 164.
[13] Holzer 2012, 37; vgl. auch Karnowka 1983, 153.
[14] Zum Datum der Feier siehe Praßl 1996, 164 f.
[15] Vgl. Praßl 1996, 172.
[17] Vgl. Holzer 2012, 43 und 28, Fußnote 94; Praßl 1996, 164 und Karnowka 1983, 153.
[18] Praßl 1996, 164.
[19] Edition in Praßl 1996, 166.
[20] Textedition in AH 53, Nr. 214. Edition und Analyse der Melodie in Praßl 1996, 167ff.
[21] Praßl 1996, 169; Edition und Analyse auf S. 169–172.
[23] Stenzl 2012, 157.
[24] Stenzl 2012, 157 f. Edition und Kommentar von Pangens chorus in Stenzl 2012.
[25] Stenzl 2012, 157.
[26] Vgl. Karnowka 1983, 157. Ostendit sanctus Gamaliel fand auch in Regensburg und Freising Eingang.
[27] Nähere Informationen hierzu in Merlin 2016.
[28] Merlin 2014a; Merlin 2014b. Geschichtliche Untersuchung in Niederkorn-Bruck 1992 und Niederkorn-Bruck 2012.
[29] Die Texte wurden in den AH ediert: Fons et origo boni (AH 13, Nr. 34); Coelestis te laudat (AH 54, Nr. 37); Laetabundus fidelis (AH 41, Nr. 6). Das Alleluja ist in Schlager 1987 nicht eingetragen.
[30] Die Texte wurden in den AH ediert. Anonyme Hymnen: Mare fons ostium (AH 4, Nr. 319); Salve felix miles (AH 4, Nr. 218); Salve sancte Colomanne (AH 3, Nr. 40). Hymnen von Christan von Lilienfeld: Novelli sideris exorto iubare (AH 41, Nr. 5); Gaude o felix Austria (AH 41, Nr. 6) und Cholomanni da precibus (AH 41, Nr. 7).
[31] Karnowka 1983, 41.
[32] Im Passauer Dom wurde (zwischen 1386 und 1418?) die Historia gestiftet; vgl. Karnowka 1983, S. 41, Fußnote 289. Es ist durchaus plausibel, dass im Laufe weiterer Forschungen andere musikalische Quellen auftauchen werden. Dies wäre besonders innerhalb der Melker Kongregation der Benediktiner zu erwarten.
[33] Auf. fol. 256v; Faksimile-Ausgabe: Väterlein 1982.
[35] Über die vier in Fußnote 28 zitierten Werke hinaus ist diesbezüglich auch Lammer 2000, 78 ff. von Interesse.
[36] Diesbezüglich siehe Firneis/Göbel/Köberl 1981.
[37] Zur Geschichte des Schottenstiftes siehe Rapf 1974, zur Zeit von 1155 bis 1418 siehe S. 9–28. Zu musikhistorischen Aspekten siehe auch Niederkorn-Bruck/Pass 1986.
[38] Vgl. Czernin 2007, 148; Czernin 2000; Pass 1986, 48–53 (Katalognummer 11 und 12).
[39] A-Ws Fragment 107. Dazu siehe Czernin 2007, 151 f.; Czernin 2000, 221 f.; Pass 1986, 53 (Katalognummer 12/26).
[40] Karnowka 1983, 35.
[41] In der Lambacher Stiftsbibliothek wird „das Antiphonar Cod. 199 mit einem Sonderoffizium für den Klosterpatron Kilian“ aufbewahrt (Flotzinger/Klugseder 2004).
[42] Karnowka 1983, 46.
[43] Czernin 2000, 221; Pass 1986, 53 (Katalognummer 12/25).
[44] Karnowka 1983, 37.
[45] Zu den Formularen für den hl. Agapitus in Kremsmünster siehe Czernin 2006, 166–179.
[46] Die Blätter 9r–398v wurden zwischen 1165 und ca. 1180 geschrieben, vgl. Czernin 2006, 19–26.
[47] Es handelt sich um Beatissimi martyris Christi Agapiti, O Christi martyr sancte Agapite, Sancte Agapite martyr egregie.
[48] Czernin 2006, 172.
[49] Czernin 2006, 171.
[53] Zum Hemma-Formular siehe Praßl 1988. Zur politischen Ausnutzung ihrer Figur siehe Lammer 2000, 62–77.
[54] Man kann davon ausgehen, dass für das Alleluja und die Sequenz nie Melodien komponiert wurden. Laut Praßl sind sie „wohl nie als Gesänge im eigentlichen Sinn geschaffen worden, sondern eher als Leselieder mit einem poetisch-musikalischen Duktus, zu dem keine der gängigen Typusmelodien anwendbar ist […]“ (Praßl 1988, 96).
[55] Niederkorn-Bruck 1992, 46 und Wodka 1970, 231.
[56] Seit 1334 ist die Orgel im Stephansdom belegt, vgl. Czernin 2011, 71.
[57] Diesbezüglich steht eine Untersuchung aus.
[58] Ein Beispiel dafür sind zwei Veröffentlichungen Johannes Winterburgers: die Hystorie de festo et translatione divi Leopoldi aus dem Jahr 1506 (» Abb. Gedruckte liturgische Formulare zu Leopold) und das Antiphonar aus dem Jahr 1519.
[59] Dazu kommt noch ein Allelujavers, der ohne Notation überliefert ist.
[60] Die Texte der Sequenzen wurden in den AH ediert: Lux est orta populo (AH 9; Nr. 281); Regem regum veneremur (AH 8; Nr. 222). In Lux est orta populo bildet sich das Achrostikon LEOPOLDVS sowohl mit den Anfangsbuchstaben der ersten Wörter der 1. Strophe, als auch mit den Anfangsbuchstaben der Strophen.
[61] Die Texte wurden in den AH ediert: Austriae decus princeps (AH 4; Nr. 333); Aurora rubens fugat (AH 4; Nr. 334); Lux visa per caliginem (AH 4; Nr. 335); Da fabricator noctis (AH 4; Nr. 336).
[62] Edition von Austriae decus princeps in Stäblein 1956, 331, Nr. 603. Lux visa per caliginem befindet sich mit Notation in den Handschriften » A-M Cod. 937 und » A-KN Cod. 62. Mit einer unterschiedlichen Melodie steht sie im Druck » Incipit hystoria de sancto Leopoldo (Passau: Petri 1490) (» Abb. Gedruckte liturgische Formulare zu Leopold). Zur Handschrift » A-KN Cod. 62 siehe Haidinger 1983, 109 ff.
[63] Vgl. Reiner 1957; 2. Text ediert in Reiner 1957, 8–13.
[64] Beschreibung in Haidinger 1983, 104 ff.
[65] Vgl. Reiner 1957; 3. Text ediert in Reiner 1957, 13–24.
[66] Faksimile von Austria laetare aus der um ca. 10 Jahre jüngeren Handschrift » A-KN Cod. 59, fol. 9r–16r, in Zagiba 1954, Tafel 30–44.
[67] Text ediert in Reiner 1957, 25–32.
[68] Faksimile-Ausgabe in Zagiba 1954, Tafel 2–29.
[69] Vgl. Reiner 1957, 4.
[70] Zu diesem Aspekt siehe Merlin 2012a, 346–353.
[71] Vgl. » A-Wda Cod. 11 und » A-Wda Cod. 10 in Kam, Lap-Kwan: Die Offiziumsgesänge im spätmittelalterlichen Österreich in der Überlieferung des Antiphonale Pataviensis D-4/C-11/C-10 der Kirnberger Bibliothek der Wiener Dompropstei. Inventar und Kommentar, Dissertation, Universität Wien 2000, 110. Für das Vollinventar dieser Handschriften siehe: http://cantusdatabase.org/.
[72] Maschek 1936, 191; Abdruck der Ode ad divum Leopoldum von Panecianus aus einem Einblattdruck von Johannes Winterburger (ohne Jahr) auf S. 194–197.
[73] Leopold-Formulare befinden sich in folgenden Büchern (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): den Missalen für Passau (Augsburg: Ratdolt 1494 und 1498, sowie Wien: Winterburger 1503, 1507 und 1509); den Missalen für Salzburg (Wien: Winterburger 1506 und 1510); den Passauer Brevieren (Augsburg: Ratdolt 1490 sowie Venedig: Liechtenstein 1515).
[74] Faksimile-Ausgabe: Schlager 1985; zu den Argumenten gegen eine ausschließliche Zuschreibung zur Diözese Passau siehe Merlin 2012c.
[75] » Polzmann, Balthasar: Compendium vitae miraculorum S. Leopoldi, Sexti Marchionis Austriae, cognomento Pii (…), Klosterneuburg: Leonardus Nassinger 1591 (konsultiertes Exemplar: A-Wn 53.235-B Alt).
[76] Das Alleluja Christe nate patris befindet sich auch im Druck » Incipit hystoria de sancto Leopoldo (» Abb. Gedruckte liturgische Formulare zu Leopold), fol. 20v, und im » Graduale Pataviense (Wien: Winterburger 1511), fol. 139v (Faksimile-Ausgabe: Väterlein 1982). Diese Melodie weist eine interessante Form auf, bei der die strukturellen Noten F und c hervorgehoben werden. Für eine Analyse der Melodie siehe Merlin 2011, 225–228. Beide Alleluja zu Ehren Leopolds, Christe nate patris und Gaudeat ergo terra Austriae, sind in Schlager 1987 auf S. 110 bzw. 186 ediert (Kommentar auf S. 611 bzw. 646).
[77] Ritter 1882, 9. Dieses Gebäude wurde im Jahr 1700 abgetragen.
[78] Ritter 1882, 7.
[80] Ritter 1882, fol. 1r.
[81] Ritter 1882, fol. 4r.
[82] Ritter 1882, fol. 4v.
[83] Ritter 1882, 10; vgl. auch fol. 4r. Zur Wirkung eines gehörten Gesangs für den Ablass siehe Lodes 2001.
[84] Das Responsorium Felix namque es sacra virgo wird auch für andere Marienfeste verwendet.
[85] Das Responsorium Sint lumbi vestri praecinti wird auch für Allerheiligen verwendet.
[86] Zwei Exemplare sind im British Museum aufbewahrt (Museum number E,2.320 und 1895,0122.697; http://www.britishmuseum.org/research/collection_online/collection_object_details.aspx). Vgl. dazu auch: Eva Michel und Maria Luise Sternath (Hrsg.), Kaiser Maximilian I. und die Kunst der Dürerzeit, München 2012, S. 175 (Katalognummer 25). Kommentar zu den Heiligengestalten bei Niederkorn-Bruck 2014, 32–35.
[87] Vgl. Haarländer 2001.
[88] Vgl. Goetz 1998.
[89] Im Kodex » A-Wn 4494 (Orationale Kaiser Friedrichs III.) sind Otto und Poppo nicht eingetragen; vgl. Strohm 2007, 249. Weitere Forschungen werden höchstwahrscheinlich zeigen, dass die von Dürer gezeichneten, nicht heiliggesprochenen “Heiligen” auch in anderen persönlichen Brevieren von Friedrich III. und Maximilian I. nicht eingetragen sind.
[91] Rupert und Virgil sind aber erwartungsgemäß im Kodex » A-Wn 4494 eingetragen; vgl. Strohm 2007, 249.
[92] Österreichische Nationalbibliothek, Miniaturenkodex D, Werkstatt Jörg Kölderers, um 1515. Siehe dazu Laschitzer 1886/1887.
Empfohlene Zitierweise:
David Merlin: „Musik und Verehrung von Lokalheiligen „, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/musik-und-verehrung-von-lokal-heiligen> (2016).