Variabilität von Liedern in Gestaltung und Funktion
Die auffällige Multifunktionalität von Liedern beruht auf ihrer Eigenart, so etwas wie eine Kernsubstanz zu verbürgen, die sich aus einem Text, einer Melodie, einem Tonsatz speist, wobei die Anteile variabel sind. Auf jeden dieser Bestandtteile kann verzichtet werden, jeder davon lässt sich ersetzen und jede Kombination einzelner Elemente kann nochmals eine Anreicherung erfahren. Lieder funktionieren im 15. und 16. Jahrhundert im Sinne eines modularen Systems.
In potenzierter Form trifft dies auf die Lust am Kombinieren zu. Auch das ist beileibe keine „nationaltypische“ Erscheinung, aber sie erfährt bei deutschen Liedern eine eigene Einlösung. Für die Herstellung musikalischer Gebilde besteht aus fachlicher Sicht der handwerkliche bzw. intellektuelle Anreiz, Verschiedenes zusammenzuführen, für ihren Gebrauch das Erkennen des Verknüpften und der damit einhergehende emotionale bzw. gedankliche Mehrwert im Vordergrund. Dieser Bedeutungszuwachs kann humoristischer, atmosphärischer oder regelrecht exegetischer Art sein. Zu amüsanten oder überraschenden Effekten führt das quodlibethafte Zusammenstellen von Liedanfängen oder Liedzeilen, wie es nach mehreren Fällen in den Saganer Stimmbüchern einen Höhepunkt in Schmelzls Drucksammlung » Guter seltzamer und kunstreicher teutscher Gesang erfuhr. Es stieß sicher an vielen Orten auf erfreute Abnehmer, als Unterhaltungsform am Wiener Schottenstift ist es rekonstruierbar. Die deutschen Liedmessen, die sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie nicht nur monophone Cantus firmi zitieren, sondern öfters gleich ganze polyphone Passagen aus den Liedern herausbrechen und dem Messensatz implantieren, setzen ganz offenbar auf das (bewusste oder unbewusste) Hören vertrauter Klangpassagen.[34] Und eine Subbotschaft wurde im Leopold-Kodex dem Tannhäuser-Lied (» Hörbsp. ♫ Tannhauser) beigefügt: Im dreistimmigen Satz mit der Liedweise im Tenor wird die Geschichte des Tannhäusers, der Erlösung aus dem Bann der Frau Venus ersehnt, thematisiert. Hundert Blätter später ist das Lied in den Bass einer vierstimmigen Komposition versetzt und mit einer Heilsbotschaft in Gestalt des Pfingsthymnus Veni creator spiritus vereinigt, wodurch das tröstliche Ende der Geschichte vorweggenommen wird.[35] Von der Wirksamkeit der „eingewebten“ (Lied-)Botschaften war man anscheinend überzeugt. 1488 verabschiedeten Adel und Reichsstädte, die sich gerade zum Schwäbischen Bund vereint hatten, unter anderem Maßnahmen, die dem Seelenheil der Bevölkerung dienen sollten. Dazu zählte auch, „dasz ouch in allen stetten in den pfarr-kirchen und klöstern allwegen uff St. Jergen tag ain amt in der von der hailigen dreyfaltigkeit der Junfrowen Mariae und des lieben ritters St. Jergen um sig und gnad gesungen werd … so lang disz buntnusz weren wirdet“.[36] (dass auch in den Pfarrkirchen und Klöstern immer am St.-Georgstag eine Messe von der hl. Dreifaltigkeit, der Jungfrau Maria, und dem lieben Ritter St. Georg um Sieg und Gnade gesungen wird, so lange dieses Bündnis währen wird.)
Sieg und Gnade (mittelhochdeutsch „sälde“) kommen in der Missa Sig säld und heil[37] vor, die ein Lied verarbeitet, das Schedel unter dem Lemma „Von osterreich“ in seine Sammlung eintrug (» Hörbsp. ♫ Sig, säld und hail und » Hörbsp. ♫ Sig, säld und hail (Contratenor melior)).
[34] Strohm 1989; Leverett 1995; Höink 2012. Dem Überblick wäre noch die von Nicolas Champion dit Liegeois komponierte Missa Ducis Saxsoniae Sing ich nit wol hinzuzufügen, deren Liedbasis bereits vor dem süddeutschen Manuskript D-WGl Lutherhalle Ms. 403/1048 (um 1535/1536) in Bernhard Rems Stimmbuchsatz D-Mu, 8°Cod. ms. 328–331 (vor 1527) festgehalten ist.
[35] D-Mbs Mus. ms. 3154, fol. 53v: Tannhauser Ihr seid mir lieb (3v), fol. 151r: Veni creator spiritus und Thanhauser jr seit mir lieb. Heidrich 2005, 54 ff.
[36] Klüpfel; Karl (Hrsg.): Urkunden zur Geschichte des Schwäbischen Bundes (1488–1533), Bd. 1, Stuttgart 1846, 24.
[37] Zur Autorschaft siehe Leverett 1995, zum musikalischen Stil im Umfeld Friedrichs III. siehe Schmalz 1987, zum Titel siehe Strohm 1989.
[1] Beispielsweise So lanc so meer als So lang si mir (in I-TRbc 90, fol. 344v) oder Een vraulic wesen als Ein frölich wesenn (im Liederbuch des Johannes Heer, CH-SGs Ms. 462, fol. 28v–30r).
[2] Binchois’ Dueil angoisseux wird in I-TRbc 88, fol. 204v, zu De langwesus; von der Frottolazeile „Tente a l’ora, ruzinente, ch’io vo’ cantar“ bleibt im vom Augsburger Johann Wüst geschriebenen Manuskript CH-Bu F X 1–4 (fol. 97) noch „Dentelore“ übrig; ein Quodlibet der Saganer Stimmbücher (Nr. 118) zitiert die Lieder Rabaßkadol und Panny, pany, baby („Frau, Frau, alte Frau“).
[4] Es handelt sich um die RISM-Nummern 1512/1, 1513/2, [1513]/3, [1513]/3 (1517 in Mainz erschienen) und [1519]/5 (als xylographischer Reprint eines verschollenen um 1510 in Augsburg publizierten Liederbuchs 1514/1515 gedruckt, s. Schwindt 2008).
[5] Zu allen drei Handschriften vgl. Strohm 1993, 492–503.
[8] Nach Strohm 1993, 519, und Strohm 2001, 23, ist die Handschrift von vornherein im Besitz der Chorschule von St. Jakob, Innsbruck, gewesen, deren Kräfte zum musikalischen Hofdienst herangezogen wurden. Vgl. auch » G. Nicolaus Krombsdorfer.
[10] I-TRbc 89, fol. 388v–389r; I-Fn, B.R. 229, fol. 174v–175r; » Guter seltzamer und kunstreicher teutscher Gesangk; Nürnberg 1544, Nr. 8: „Heyaho nun wie sie grollen dort auff dem Ritten die geschwollen“ in der Secunda pars, T. 76–85; Textanspielung am Satzbeginn, T. 1–13: „Woll wir aber heben an den Danhauser zu singen“ (DTÖ 147/148, 63 und 69 f.).
[11] Bienenfeld 1904/1905, 96, Anm. 2.
[12] CH-Zz, Ms. G 438 (geschrieben um 1524); Pfisterer 2013.
[13] A-Wn Mus.Hs. 18810 (um 1524) und D-Mu, 8°Cod. ms. 328–331 (vor 1527), auch „Welser-Liederbuch“ genannt.
[14] Auch „Herwart-“ oder „Augsburger Liederbuch“ genannt.
[15] Birkendorf 1994, Bd. 1, 98.
[16] Schwindt 2013, 126–130.
[17] D-W, Cod. Guelf. 78.Quodl.4 (Süddeutschland um 1505); D-Mbs Mus. ms. 4483 (Süddeutschland um 1515); A-Wn Cod. 4337 (Wien, Anfang 1520er Jahre); D-W Cod. Guelf. 292 Musica hdschr. (Konstanz?, um 1525).
[18] CH-Bu F X 10 (1510); CH-Bu F X 5–9 (Faszikel I: ca. 1510); CH-Bu F X 1–4 (Faszikel I: ca. 1517/1518, Faszikel II: ca. 1524); CH-Bu F VI 26 (1. Viertel 16. Jahrhundert); CH-SGs Ms. 462 (1510–1516, 1530), auch „Heer-Liederbuch“ genannt.
[19] Siehe oben Anm. 4.
[20] RISM 1534/17: » Der erst teil. Hundert vnd ainundzweintzig newe Lieder…, hrsg. von Johann Ott, Nürnberg 1534.
[21] Sterl 1971, 24. Grünwald/Gruenwolt ist 1483–1487 als Persefant (Unterherold) in Regensburg nachweisbar.
[22] Grosch 2013, 48–54.
[23] A-Wn Cod. 3027 (Passau ca. 1492–1494), fol. 174v–177r: „Von yppliklichen dingen“. Partiturwiedergabe in Curschmann 1970, 22 f.
[24] Quodlibet Nr. XX zitiert mit dem Verspaar „Da schalt sie jhn ein trollen, ein truncken vnd ein vollen“ aus der Mitte der dritten Hesselloher-Strophe (Secunda pars, T. 133–137, der Rhythmus entspricht der Liedvorlage, die diastematische Führung ist leicht modifiziert, siehe DTÖ 147/148, 132).
[25] A-Whh RR V (1489-1492): Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Reichsregister Bd. V (1489–1492), fol. 60r.
[26] „Die situationsbasierten Thematisierungsverfahren lassen die Liebe vor allem als kulturelles Handeln in konventionalisierten Umständen erscheinen“: Hübner 2013, 107.
[27] Die älteste verfügbare Quelle zum mehrstimmigen Elslein-Lied sind die Saganer Stimmbücher (PL-Kj Berol. Mus.ms. 40098). Es gibt in der Tat eine frühere, von ca. 1455 stammende Überlieferung in Form einer einstimmigen Melodie, allerdings handelt es sich um einen lateinischen Text Gaudeamus pariter (CZ-Pnm Vysehrad 376, fol. 39v; Digitalisat in der Datenbank Melodiarum hymnologicum Bohemiae:http://tinyurl.com/gaudeamuspariter). Es ist sehr gut möglich oder sogar wahrscheinlich, dass es sich dabei um eine geistliche Kontrafaktur des weltlichen einstimmigen Elslein-Liedes handelt. Dieses ist aber bislang nicht dokumentierbar.
[28] Die ältesten Quellen zu diesem populären Lied sind ein Einblattdruck des Textes von Albert Kunne (Memmingen, ca. 1501, siehe http://tinyurl.com/Ich-stund-Kunne, Metadaten unter http://tinyurl.com/Kunne-meta) und eine freie paraphrasierende Bearbeitung von Melodiebestandteilen unter der Textmarke im Tenor „Ich stund an einem Morgen“, die um 1499/1500 auf fol. 221v–222r in den Berliner Mensuralkodex D-B Mus. ms. 40021 eingetragen wurde. Beide legen einen Bezug zu einer allgemein bekannten Liedmelodie nahe, ohne dass diese heute als ältere Niederschrift nachweisbar wäre.
[29] D-B Ms. germ. oct. 280, fol. 48b–49b (Nr. 33): Ich sien den morgenssterren.
[30] Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Geheimes Hausarchiv, 601, XXVI, Brief Herzog Philipps an seinen Vater Wilhelm V. vom 13.10.1593.
[31] Zur Geschichte des Terminus siehe Grosch 2013, 23–33. Vgl. auch » B. Minnesang und alte Meister zur Begriffstradition der „tenores“, die zunächst keineswegs mit Mehrstimmigkeit verknüpft war.
[32] Vollständige Transkription beider Lieder und weitere Bemerkungen in Strohm 1993, 496–499.
[34] Strohm 1989; Leverett 1995; Höink 2012. Dem Überblick wäre noch die von Nicolas Champion dit Liegeois komponierte Missa Ducis Saxsoniae Sing ich nit wol hinzuzufügen, deren Liedbasis bereits vor dem süddeutschen Manuskript D-WGl Lutherhalle Ms. 403/1048 (um 1535/1536) in Bernhard Rems Stimmbuchsatz D-Mu, 8°Cod. ms. 328–331 (vor 1527) festgehalten ist.
[35] D-Mbs Mus. ms. 3154, fol. 53v: Tannhauser Ihr seid mir lieb (3v), fol. 151r: Veni creator spiritus und Thanhauser jr seit mir lieb. Heidrich 2005, 54 ff.
[36] Klüpfel; Karl (Hrsg.): Urkunden zur Geschichte des Schwäbischen Bundes (1488–1533), Bd. 1, Stuttgart 1846, 24.
[37] Zur Autorschaft siehe Leverett 1995, zum musikalischen Stil im Umfeld Friedrichs III. siehe Schmalz 1987, zum Titel siehe Strohm 1989.
[38] Schwindt 2006, 51–56.
[40] Vgl. Schwindt 2013, 127 und 133.
[41] Ediert in Adler/Koller 1900, 269. Näheres zu diesem Lied und seinem Text bei Schwindt 1999, 58–62.
[42] Hübner 2013, 107.
Empfohlene Zitierweise:
Nicole Schwindt: „Lieder in der Region Österreich, ca. 1450–ca. 1520“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/lieder-der-region-osterreich-ca-1450-ca-1520> (2016).